Leseprobe aus „Akademisierung des Hebammenwesens“ von Barbara Fillenberg

Cover "Akademisierung des Hebammenwesens"

Eine Leseprobe aus den Seiten 14 bis 18 aus Akademisierung des Hebammenwesens. Eine empirische Studie am Beispiel Bayerns von Barbara Fillenberg, Kapitel „1 Zielsetzung“.

 

Über „Akademisierung des Hebammenwesens“

Bayern hat als letztes Bundesland die Vollakademisierung des Hebammenberufs umgesetzt. Diese Umbruchsphase beschreibt die Studie HebSzen im vorliegenden Band. Die Autorin geht dabei der Frage nach dem Verhältnis von außerklinischem Hebammenwissen und akademischer Lehre nach. Empirisch erforscht sie, wie praktisch konserviertes Wissen bisher in die Lehre eingeflossen ist und in Zukunft im Hochschulkontext weitergegeben werden kann.

 

***

1 Zielsetzung

Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, die Umbruchsituation aus berufssoziologischer Perspektive zu beleuchten und zugleich auf der Handlungsebene Möglichkeiten des Wissenstransfers aufzuzeigen. Hierfür soll anhand des zuletzt akademisierten Bundeslandes Bayern beschrieben werden, inwieweit in der bisherigen (berufsfachschulischen) Hebammenausbildung bis 2019 Kenntnisse zur außerklinischen Geburtshilfe erworben werden konnten und wie die zukünftige hochschulische Qualifikation von Hebammen auch in der außerklinischen Geburtshilfe,2 unter Einbeziehung der Kompetenzen von auf diesem Feld tätigen Hebammen, gestaltet werden kann. Hierbei ist aus hebammenwissenschaftlicher Perspektive von Interesse, inwieweit das Erfahrungswissen der außerklinisch tätigen Hebammen über Szenarien (HebSzen) in die Lehre im Simulationslabor an Hochschulen eingebunden werden kann.

Veränderungen in der Begleitung der Frau und der damit verbundenen Generierung von Hebammenwissen3 und dessen Vermittlung gab es historisch betrachtet schon immer: War es bis zum Mittelalter eine reine Frauenkunst, Schwangere, Gebärende und Wöchnerinnen zu begleiten, führten wesentliche gesellschaftliche Veränderungen im Mittelalter dazu, dass aus dieser Begleitung ein Berufsstand– das Hebammenwesen – wurde (s. Kap. 2).

Als eines der ältesten von Hebammen geschriebenen Lehrbücher, ein „Hebammenanleitungsbuch“, gilt nach Pulz „Die Chur-Brandenburgische Hoff-Wehe-Mutter“, verfasst 1690 von der Hebamme Justina Siegemund. (vgl. Pulz 1994: 16). Bereits Siegemund beschrieb, dass es Hebammenwissen gebe, das nicht verschriftlicht werden könne. Dieses Wissen nannte Siegemund „Kontaktwissen“ (Z. n. Pulz 1994: 153). Dieser Begriff hat eine zentrale Bedeutung, denn er weist auf einen Bereich des Hebammenwissens hin, der nur im engen und kontinuierlichen Betreuungsprozess erschlossen werden kann, nämlich dann, wenn die Hebamme mit der Frau und ihrem Kind ist, wie der englische Begriff midwife deutlich macht – damals wie heute. Kontaktwissen wird simultan auf mehreren Ebenen – wie beispielsweise der Beziehungsebene, der Ebene des leiblichen Spürens, aber auch der fachlichen und handwerklichen Ebene – generiert und abgeglichen. Diese Ebenen sind eng miteinander verwoben, aber nicht alle gewonnenen Informationen können expliziert werden. Das Kontaktwissen hat daher stets eine ihm eigene Qualität. Je länger und intensiver der Kontakt zwischen den Hebammen und Frauen ist, desto mehr Kontaktwissen kann generiert werden, welches sich zwangsläufig auf die Betreuungsqualität auswirkt. Insbesondere im außerklinischen Kontext ist der Kontakt bis heute ein wesentliches Merkmal der Betreuung.

Mit Einsetzen der Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe, der Etablierung von Gebäranstalten, die auch der Hebammenausbildung dienen sollten, und dem sich steigernden Interesse an anatomischen Kenntnissen durch die Ärzteschaft im 18. und 19. Jahrhundert veränderten sich die Arbeitswelten der Hebammen und Ärzte und auch die Art der Wissensproduktion (vgl. Stadlober-Degwerth 2008: 1f.). Die Konkurrenz der beiden Berufsgruppen wurde desto schärfer, je mehr die häusliche, hebammengeleitete und frauenzentrierte Geburtshilfe von Strukturen beeinflusst wurde, die zur Folge hatten, dass die Rechte der Hebammen geschmälert und ihre Kompetenzen untergruben wurden. Je populärer der Einsatz der Technik wurde, desto rückschrittlicher wirkten die Hebammen (s. Kap. 2).

Im Zuge des Modernisierungsprozesses fand eine gesellschaftliche Verschiebung zugunsten einer technisierten, medikalisierten Geburtshilfe statt, der Risikoansatz nahm Einzug in die Betreuung. Das hatte zur Folge, dass in der Wahrnehmung der Gesellschaft Geburt fortan nicht mehr nur etwas Natürliches, Normales im Leben einer Frau, sondern etwas (potenziell) Gefährliches war (siehe Kap. 4 u. 5). Mit Ende des Zweiten Weltkriegs etablierte sich die klinische Geburtshilfe in Deutschland und verdrängte so die bis dahin übliche außerklinische, hebammengeleitete Geburtshilfe (siehe Kap. 2). Außerdem wurden nach den geburtenstarken Jahrgängen, die im Schnitt rund vier Kinder bekamen, insgesamt weniger Kinder geboren – ab den 1980er Jahren nur noch 1,5 Kinder pro Frau.4 Die bewusste Entscheidung für ein Kind verstärkte aber auch die Einzigartigkeit der Geburt und brachte den Anspruch hervor, dass mit diesem Kind nichts passieren dürfe. Der klinische Betreuungsansatz mit seinem Versprechen auf Hilfe im Notfall erschien daher vielen Frauen als sichere Variante. Diese Entwicklung hatte und hat zur Folge, dass das Kollektiv der Frauen, aber auch die Hebammen selbst zunehmend klinisch sozialisiert wurden.

Mit Einführung des Hebammengesetzes von 19855 fand erneut ein Umbruch statt: Auch Männer konnten nun den Beruf der Hebamme ergreifen. Sie wurden vom Gesetzgeber mit der Berufsbezeichnung „Entbindungspfleger“ belegt, auch wenn der Hebammenberuf kein Pflegeberuf ist.

Zeitgleich bemühten sich Hebammen um eine eigene Wissenschaft: Seit den „1980er Jahren […] beschäftigen sich u.a. Hebammen, Hebammenforscherinnen [sic], Soziologinnen [sic] und Pädagoginnen [sic] vermehrt mit den Anforderungen an den Beruf der Hebamme und den daraus resultierenden Professionalisierungstendenzen bzw. der Professionalisierung und den Konsequenzen für Ausbildung, Praxis, Wissenschaft und Forschung“ (Brendel 2020a: 55). Der Professionalisierungsbedarf des Hebammenwesens wird umso deutlicher, je mehr nicht nur die Vorteile der heutigen, überwiegend klinischen Geburtshilfe, sondern auch ihre Nachteile diskutiert werden. Hierzu zählt beispielsweise der kontinuierliche Anstieg an medizinischen Interventionen und Kaiserschnitten (siehe Kap. 4 u. 5).

Die Professionalisierung des Hebammenwesens untermauert einen klaren Umbruch, der mit Machtverschiebungen einhergeht. Bourdieu beschreibt Machtverschiebungen anhand des Beispiels der Haute Couture, indem er von einem „Feld objektiver Beziehungen zwischen Individuen oder Institutionen, die miteinander um ein und dieselbe Sache konkurrieren“ spricht. Demnach besitzen diejenigen, die das Feld beherrschen, die meiste Macht. Ihr Ziel ist es, die vorhandenen Strukturen zu konservieren und ihre Macht zu erhalten. Das Ziel der anderen Seite ist es, diese Strukturen zu aufzubrechen. Taktisch werden hierfür Inkonsistenzen oder Schwachstellen der vorherrschenden Strukturen aufgespürt, dargestellt und hierfür Gegenangebote entwickelt, die dann wiederum zu „Umwälzungen“ führen können (vgl. Bourdieu 2018: 188). In der Betreuung von Schwangeren und Gebären ist dies eklatant, wann immer die Professionalisierung des Hebammenwesen mit seiner frauenzentrierten Einstellung sich mit ärztlich-klinisch zementierten Strukturen überschneidet und dort Verkrustungen, die sich zu dessen Nachteil manifestiert haben, aufzubrechen versucht. Dies wird seitens der Ärzteschaft als „wachsende Konkurrenz nicht ärztlicher Gesundheitsberufe [i.O.m.H.]“ gewertet (Siegrist 2005: 234).

Hebammen in Deutschland dürfen physiologische Geburten eigenständig betreuen und außerklinische Geburtshilfe anbieten (s. Kap. 3). Frauen haben seit 2012 das Recht auf die freie Wahl des Geburtsorts, festgeschrieben in § 24f des Fünften Sozialgesetzbuchs (SGB V).6 Auch wenn heute nur noch rund 2 Prozent der Kinder in Deutschland außerhalb einer Klinik geboren werden (s. Kap. 6), müssen WeHen hierfür qualifiziert werden, um später als Hebammen Angebote schaffen zu können, so dass Frauen von ihrem Recht, den Geburtsort frei wählen zu können, Gebrauch machen können. Die wenigen Hebammen, die noch in diesem Bereich tätig sind, konservieren Spezialwissen, das in Teilen mit dem Begriff des von Siegemund beschriebenen Kontaktwissens belegt werden kann und das sich teils erheblich von dem Wissen unterscheidet, das in der klinischen Betreuung relevant ist. Damit geht einher, dass im außerklinischen Setting auch ein darauf angepasstes Handeln erforderlich ist. Im Klinikalltag unterbinden die organisatorischen Strukturen häufig kontinuierliche, hebammengeleitete Betreuungsprozesse. Hebammen und Frauen lernen sich oft erst zur Geburt kennen. Während Kontaktwissen im klinischen Kontext daher nicht alle Ebenen umfassen kann und somit häufig durch technische Überwachung ersetzt wird, gilt es im außerklinischen Kontext als wesentliches Element, das den Hebammen auch Sicherheit gibt:7 Wenn sie die Frau und deren Kind kennen, können sie auch sehen, falls etwas anders ist als sonst. Dieses Gewahrwerden einer Situation, die anders ist als sonst als eine Abweichung vom Bisherigen ist eine wesentliche Erkenntnis, um die bisherige Art der Betreuung anpassen zu können und gegebenenfalls weitere Schritte einleiten zu können. Um diese Unterschiede zu verdeutlichen, wird für die vorliegende Arbeit ein Vergleichshorizont von der außerklinischen Geburtshilfe in Bayern zu der in bayerischen Kliniken angelegt und zugleich der Klinikalltag auch immer wieder als Teil dessen Problems, das zum Umbruch im Hebammenwesen geführt hat, vorausgesetzt.

Des Weiteren werden folgende Probleme adressiert: Das Studium zur Hebamme schließt mit einer staatlichen Prüfung ab. In Anlage I der Studien- und Prüfungsverordnung für Hebammen (HebStPrV)8 werden Kompetenzen genannt, die zwingend vorzuweisen sind, um die Prüfung bestehen zu können. Diese Kompetenzen dienen der Förderung der physiologischen Geburt sowie der umfassenden, hebammengeleiteten Betreuung der Frau über den gesamten Zeitraum der Familienbildung, der Schwangerschaft, der Geburt, des Wochenbetts und der Stillzeit. Dies erfordert die Einbindung der Kenntnisse aller freiberuflich tätigen Hebammen, auch und im Besonderen derjenigen, die außerklinisch tätig sind. An staatlichen Hochschulen in Bayern können jedoch, mit nur wenigen Ausnahmen, in der Regel nur Personen unterrichten, die neben einschlägiger Berufserfahrung auch einen Hochschulabschluss und eine pädagogische Eignung vorweisen können (vgl. Bayerisches Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst 9. März 2020). Sander et al. (2018) merken an, dass die in Bayern tätigen Hebammen ihr Hebammenexamen überwiegend auch in Bayern abgelegt hätten. Daraus kann abgeleitet werden, dass die in Bayern tätigen Hebammen überwiegend klinisch sozialisiert wurden und mehrheitlich die außerklinische Hebammentätigkeit nicht vermitteln können. Zudem haben weniger als 10 Prozent der Hebammen ein Studium im Bereich der Hebammenkunde abgeschlossen (vgl. Sander et al. 2018: 75, 83). Außerklinisch tätige Hebammen, die ihre Hebammentätigkeit einstellen oder deutlich einschränken, um in die Lehre zu gehen, fehlen auf dem Markt und können dort keine Geburtshilfe anbieten. Da nur rund 2 Prozent der Kinder in Deutschland außerklinisch geboren werden, besteht auch für die berufspraktische Qualifikation von werdenden Hebammen ein Lücke: Es ist unwahrscheinlich, dass in naher Zukunft allen WeHen die Möglichkeit angeboten werden kann, eine außerklinisch tätige Hebamme zu begleiten.

Mit der vorliegenden Arbeit sollen daher einerseits Szenarien (HebSzen) beschrieben werden, die durch die Entwicklung des Hebammenwesens von einer auf Kontakt basierenden Frauenkunst hin zu einer Wissenschaft deutlich wurden, sowie jenen zu Übungszwecken, wie sie im Unterricht im Simulationslabor an Hochschulen Anwendung finden können, um den Mangel an Praxisplätzen zu überbrücken. All diese Szenen können wie die Einzelteile eines großen Mosaiks nur im Ganzen betrachtet ein Gesamtbild ergeben. Insbesondere aus berufssoziologischer Perspektive soll die aktuelle Umbruchphase im Hebammenwesen nachvollzogen und verstanden werden.

___

2 Außerklinische Geburtshilfe meint hier hebammengeleitete Geburtshilfe in von Hebammen geleiteten Einrichtungen (HgE) wie Praxen oder Geburtshäusern sowie die Hausgeburtshilfe.

3 Unter Hebammenwissen wird hier das Wissen verstanden, das aus allen Tätigkeitsbereichen, die Hebammen zugeschrieben werden, und ihren daraus hervorgegangenen Erfahrungen sowie den hebammen- und bezugswissenschaftlichen Erkenntnissen, die in ihre Arbeit einfließen, kumuliert wurde und wird.

4 Die genauen Zahlen zur Fertilität können beim Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (2021) nachgelesen werden.

5 Hebammengesetz vom 4. Juni 1985 (BGBl. I: 902), das zuletzt durch Artikel 39 des Gesetzes vom 6. Dezember 2011 (BGBl. I: 2515) geändert worden ist. Zuletzt geändert durch Art. 39 G v. 6.12.2011 I 2515.

6 Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 20. Dezember 1988, BGBl. I: 2477, 2482), das zuletzt durch Artikel 18 Absatz 9 des Gesetzes vom 19. Mai 2020 (BGBl. I: 1018) geändert worden ist.

7 Zur außerklinischen Geburtshilfe werden Hausgeburten oder Geburten in hebammengeleiteten Einrichtungen, wie etwa Geburtshäusern, gezählt (s. Kap. 6).

8 Studien- und Prüfungsverordnung für Hebammen vom 8. Januar 2020 (BGBl. I: 39).

***

Sie möchten gern weiterlesen?

 

Jetzt „Akademisierung des Hebammenwesens“ versandkostenfrei im Budrich-Shop bestellen

Cover "Akademisierung des Hebammenwesens"Barbara Fillenberg:

Akademisierung des Hebammenwesens. Eine empirische Studie am Beispiel Bayerns

L’AGENda, Band 12

 

 

 

Mehr Leseproben …

… finden Sie auf unserem Blog.

 

© Titelbild: gestaltet mit canva.com