Wissenschaftliches publizieren begleiten: Barbara Budrich über Mythen und Entzauberung

Wissenschaftliches Publizieren begleiten: Barbara Budrich über Mythen und Entzauberung

Wissenschaftliches publizieren begleiten

„Alle sollen meine Dissertation lesen können!“ Diesen ehrgeizigen Vorsatz äußerte eine junge Wissenschaftlerin kürzlich in einem meiner Workshops. Wie so häufig in „unseren“ Wissenschaften hatte auch ihre Forschungsfrage gesellschaftliche Relevanz. Und die Ergebnisse ihrer Forschung wiesen in eine Richtung, die den Fokus auf Ungleichheiten in unserer Gesellschaft richtete. Der Wunsch nach möglichst breiter Rezeption ist von daher nachvollziehbar – und in unseren Wissenschaften weit verbreitet.

Promovierende in den Sozial- und Erziehungswissenschaften verbringen mehrere Jahre mit ihrer Dissertation. Und wer glaubt, es ginge dabei lediglich um Lesen, Schreiben und Forschen, irrt: Denn es geht auch um Engagement, Lebenszeit und Herzblut. In den vergangenen mehr als 30 Jahren durfte ich viele Promovierende auf ihrem Weg zum Publizieren begleiten. Vor allem natürlich quasi auf den letzten Metern: beim finalen Schreiben und beim Publizieren. So habe ich gelernt, dass sich die Welt von Wissenschaftler*innen während dieser Phase verändert und verzerrt. Die Diss und alles, was dazu gehört, steht im Mittelpunkt des eigenen Lebens. Die Fähigkeit, sich aus dieser Verstrickung zu befreien, geht mehr und mehr verloren, je intensiver die Arbeitsphasen sind. Bis Werk und Autor*in zu guter Letzt eine Einheit sind. (Übrigens ist diese Identität nicht auf die Promotion beschränkt. Sie ist ein Phänomen, das auch bei anderen Textsorten auftauchen kann; je mehr Herzblut im Text steckt, desto größer für gewöhnlich die Identifikation.) Damit soll nicht gesagt sein, dass die wissenschaftliche Objektivität fehle: Von der ist an dieser Stelle nicht die Rede.

Durch diese Veränderung in der Wahrnehmung wird aus dem Wunsch nach möglichst breiter Rezeption auch eine Gewissheit, dass die Welt diesen Text lesen möchte – und verstehen kann. Und genau an dieser Stelle tut sich eine Falle auf, in die viele (angehende, aber auch erfahrene) Autor*innen tappen können: Sie wissen nicht, wer ihre Zielgruppe ist.

Meine Workshop-Teilnehmerin fragte ich, wer denn ihrer Meinung nach die allerwichtigste Zielgruppe für ihre Dissertation sei. Nach einiger Diskussion im Plenum wurde ihr wie allen anderen Teilnehmer*innen klar: die Gutachter*innen.

An diese Erkenntnis knüpfte die weitere Diskussion an: Welche Ansprüche stellen die Gutachter*innen an den Text? Welchen Konventionen hat er zu genügen? Folgt aus dem Adressieren der einen Zielgruppe möglicherweise der Ausschluss einer anderen?

 

Zielgruppe und Ziel des wissenschaftlichen Publizieren

Wenn Sie darüber nachdenken, für wen Sie schreiben, dann sollten Sie sich zudem darüber klar werden: Warum soll oder will (oder muss) meine Zielgruppe diesen Text lesen? Welche Funktion hat der Text?

Eine Dissertation ist eine Qualifikationsarbeit. Damit beweisen Promovierende ihre wissenschaftliche Eignung. Die Diss ist eine Art Visum für das Land Academia. In vielen Disziplinen bringt dies einen gewissen Stil mit sich, die Verwendung von Fachtermini, einen Aufmarsch an Zeug*innen, ein Zusammentragen von Quellen, Zitaten, Belegen, Methoden und Theorien. All dies ist im wissenschaftlichen Kontext unbedingt erforderlich. Eine breite Rezeption erleichtert dies hingegen nicht.

Hier tut sich also ein Zielkonflikt auf: Die Autorin möchte, dass „alle“ ihre Dissertation lesen (wollen). Die Gutachter*innen verlangen hingegen, dass die Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens so befolgt werden, dass die wissenschaftliche Qualifikation der Autorin belegt wird. Beide Ziele zeitgleich mit demselben Text zu erreichen, ist nahezu unmöglich.

Prioritäten und Publikationsoptionen

Allein die Klarheit über diesen Zielkonflikt brachte unserer Workshopteilnehmerin Erleichterung: Anstatt zwei Ziele zu verfolgen, die nur in den allerseltensten Fällen zeitgleich erreicht werden können, konzentrierte sie sich auf das wichtigere Ziel.

Dabei gibt es zahlreiche unterschiedliche Publikationsoptionen, die abhängig sind von den eigenen Prioritäten und Möglichkeiten. Mit der Workshopteilnehmerin haben wir zwei Wege skizziert – und das Schön daran: Sie kann sich quasi kurz vor der Ziellinie für Option A oder B entscheiden.

 

Option A: Die Dissertation als „Second Book“

Da so viele Promovierende davon träumen, ihre Dissertation breiter rezipiert zu sehen, ist Option A ein beliebtes Szenario. Dabei wird der Publikationspflicht der Dissertation möglichst unaufwändig genüge getan: zum Beispiel als „Copyshop-Bindung“ in der erforderlichen Anzahl. Damit verbleibt das Copyright an der Dissertation bei unserer Autorin und die Dissertation findet quasi „keine“ Verbreitung.

Für den zweiten Schritt wird das Manuskript überarbeitet: Die „Eierschalen der Dissertation“ können komplett wegfallen, der hochspezifische Fokus kann erweitert und ergänzt werden, Duktus und Sprache können freier werden. Wie frei, ist abhängig von der angestrebten Publikationsform: (populär)wissenschaftliches Sachbuch oder wissenschaftliche Monografie? Auch hier ist die Frage nach Ziel und Zielgruppe entscheidend mit Blick auf die Überarbeitung des Textes.

Im anglo-amerikanischen Raum, wo es keine Veröffentlichungspflicht für Dissertationen gibt, sind derartige Veröffentlichungen als „Second Book“ bekannt.

Das Problem an Option A liegt in den Ressourcen: Die meisten Promovierenden – so auch unsere Workshopteilnehmerin – haben nach mehreren Jahren Promotionsphase alsbald das nächste Projekt zu bewältigen. Ohne das nächste Projekt fehlt es an Geld. Und mit dem Projekt fehlt die Zeit. Aus diesem Grunde wird sehr häufig Option B gewählt.

 

Option B: Publizieren mit Reputationsgewinn und weiter

Als eine Art Kompromiss wird die Dissertation in einem Wissenschaftsverlag veröffentlicht. Durch die „gute Gesellschaft“, das sorgfältig kuratierte Verlagsprogramm, ist diese Publikation ein echter Eintrag auf der eigenen, stetig wachsenden Publikationsliste. Die Auflage bleibt klein, die Rezeption auf Spezialist*innen begrenzt – und zwar unabhängig davon, ob Open Access veröffentlicht wird oder nicht – und doch gibt es mehr als „nur“ den Doktortitel.

 

Entscheidungen nach klaren Regeln

Für viele Erstautor*innen bedeutet diese Erkenntnis eine Ernüchterung, vielleicht gar eine Entzauberung. Und ich habe es schon erlebt, dass ein Kollege aus einem sehr großen Verlag behauptete, er würde dafür sorgen, dass „jede Dissertation zum Bestseller“ würde. Natürlich hören Autor*innen das lieber. Nur stimmt es nicht.

Die junge Wissenschaftlerin aus meinem Workshop hat mit ihrem Wunsch nach breiter Rezeption lediglich einen Mythos angerissen, der beim wissenschaftlichen Publizieren weit verbreitet ist. Es gibt zahlreiche Missverständnisse, Fehlannahmen und viel Halbwissen, das durch häufiges Wiederholen auch nicht vollständiger wird. Dabei ist es relativ einfach: Wenn Sie wissen, wen und was Sie mit ihrer Publikation erreichen wollen, dann ergeben sich daraus die sinnvollen Publikationsoptionen für diesen Text. Und eines kann ich Ihnen noch verraten: „Alle“ sind für wissenschaftliche Texte keine geeignete Zielgruppe.

 

Zur Person Barbara Budrich

Im Jahr 1993 begann sie die Arbeit als Lektorin im Verlag Leske + Budrich, der ihrem Vater Edmund Budrich gehörte. Im Jahre 2004, nach dem Verkauf von Leske + Budrich, gründete Barbara Budrich ihr erstes eigenes Unternehmen, den Verlag Barbara Budrich. 2007 gründete sie die Budrich UniPress Ltd., die 2019 in Budrich Academic Press überführt wurde.

Sie hat zahlreiche Bücher und Aufsätze publiziert und ihr Publizieren begleitet, wird zu unterschiedlichen Anlässen als Rednerin eingeladen – vom wissenschaftlichen Publizieren bis hin zu Unternehmensthemen – und ist vielfach ausgezeichnet. Weitere Informationen zu ihr auf ihrer eigenen Webseite.

 

Bild Barbara Budrich: Nina Schöner Fotografie.

 

 

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Headerbild: pexels.com / Karolina Grabowska