Open Educational Resources – Gedanken einer Verlegerin

Person trägt ein Buch

Am 16. April 2021 berät das Referat “Infrastrukturförderung Schule” des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Thema Open Educational Resources (OER). Als Wissenschaftsverlegerin habe ich zwar mit Schule nur mittelbar zu tun, OER jedoch werden auch an Hochschulen und Universitäten für die Lehre disktuiert und von einschlägigen Wissenschaftler*innen mit verantwortet. Sicherlich bin ich auch aus diesem Grund vom BMBF zum Mitdiskutieren eingeladen worden.

Als Verlag unterstützen wir die Open-Access-Bemühungen unserer Wissenschaften auf vielfältige Weise. Open Access bezieht sich auf den freien und kostenlosen Zugriff auf Forschung. Bei OER dreht es sich um den freien und kostenlosen Zugang zu Lehr- und Lernmaterialien.

In Vorbereitung auf den vom BMBF organisierten Austausch habe ich ein Papier verfasst, das ich im Folgenden leicht überarbeitet zur Verfügung stellen möchte.


Meine Kernthesen

  • Solange die Arbeit der Verlage und Urheber*innen angemessen vergütet wird, ist aus Verlagssicht die Veröffentlichung unter offenen Lizenzen unproblematisch.
  • Verlage sind in Zusammenarbeit mit einschlägigen Autor*innen, häufig Wissenschaftler*innen, dafür prädestiniert, an der Entwicklung von OER zu arbeiten sowie für den dauerhaften Einsatz und damit die notwendigen beständigen Aktualisierungen (technisch und redaktionell-inhaltlich) zu sorgen.
  • Im Verlag fließen fachliche, konzeptionelle, didaktische, redaktionelle, rechtliche und technische Kompetenzen zusammen; Autor*innen können wechseln, ohne dass OER dadurch vollständig neu „erfunden“ werden müssten.
  • Wissenschaftsverlage sind mit spezifischen Communitys dauerhaft in engem Austausch und bringen zugleich eine große Innovationskraft (und innere Innovationsnotwendigkeit) mit.
  • Die internationale Kooperation funktioniert genau wie die nationale über einschlägige Communitys; diese zu pflegen liegt im Eigeninteresse eines Verlages.
  • Die aktuelle Kultur in der Wissenschaft wie auch die grundlegenden Anforderungen an wissenschaftliches Arbeiten widersprechen an vielen Stellen der völligen Freigabe und dem beliebigen Weiterverwenden unterschiedlicher Materialien.

 

Die verschiedenen Elemente und das Geschäftsmodell

Das eigentliche Veröffentlichen von OER ist nur ein Punkt; es gibt zahlreiche vorgelagerte Fragen, die mit konzeptioneller, redaktioneller Arbeit, curricularer Passung und didaktischen Elementen zu tun haben. Bevor darüber nachgedacht wird, wer diese Arbeiten (vor)finanziert, muss klar sein, dass diese Arbeiten fair vergütet werden – ob zentral von Seiten des Staates oder dezentral durch den individuellen Verkauf der Lehrmaterialien. Auch die Frage nach der Honorierung der Arbeit von Autor*innen ist zu beantworten. Solange die Arbeit von Verlagen und Urheber*innen angemessen vergütet wird, ist aus Verlagssicht die Veröffentlichung unter offenen Lizenzen unproblematisch.

Allerdings wird meiner Erfahrung nach die Arbeit von Verlagen beim Erstellen von Lehr- und Studienliteratur häufig unterschätzt. Es gibt ganz grundsätzlich zwei Wege, wie derartige Lehrmaterialien sich auf dem Weg in die Öffentlichkeit machen können: 1. Autor*innen wenden sich mit einer entsprechenden Idee an einen Verlag; 2. Verlage sprechen Autor*innen oder Herausgeber*innen an, um einschlägige Materialien auf den Weg zu bringen. Als Marktkenner*innen sind Verlage nicht selten diejenigen, die in diesem Bereich Ideen und Konzepte auf den Weg bringen.

Unabhängig davon ist in beiden Fällen die Kompetenz des Verlagslektorats gefragt: Geländekenntnis (wird das Material gebraucht und zwar nicht nur von dieser einen Person, sondern an vielen Hochschulen z.B. im deutschsprachigen Raum), Wissen über Zielgruppen (an Studierende welcher Studienphase wendet sich das Projekt?), Kenntnisse über Lehr-Lern-Gewohnheiten und Optimierung der sich daraus ergebenden Konzeption und didaktischen Aufbereitung (welche Elemente – Kontrollfragen, Musterlösungen, Vergleichsquellen, Schaubilder, Glossare … – sind für das Projekt für diese spezifische Zielgruppe sinnvoll und zielführend?), Marktkenntnis (welche Konkurrenzprodukte gibt es bereits und wie unterscheidet sich das geplante Projekt?). Antworten auf all diese Fragen münden in der möglichst optimalen Aufbereitung des Stoffes, in Verweisen auf Bestehendes und das Entwickeln neuer Materialien und technischer Aufbereitung.

Verlage brauchen die Möglichkeit, diese Arbeiten zu (re)finanzieren – und wir schauen hier nicht allein auf Produktionskosten, sondern vor allem auf die Gemeinkosten. Nur so können wir unseren konzeptionellen und qualitätssichernden Aufgaben nachkommen. Welches Geschäftsmodell der Finanzierung zugrunde liegt ist zweitrangig.

 

Arbeitsteiligkeit in der heutigen Lehr-Lern-Gesellschaft

Aus meiner Sicht als Verlegerin sind Verlage in Zusammenarbeit mit einschlägigen Autor*innen/ Wissenschaftler*innen dafür prädestiniert, an der Entwicklung von OER zu arbeiten sowie für den dauerhaften Einsatz und damit die notwendigen beständigen Aktualisierungen (technisch und redaktionell-inhaltlich) zu sorgen. Da es in der Wissenschaft heute üblich ist, nicht über Jahre (oder gar Jahrzehnte) an den gleichen Themen zu arbeiten, ist es sinnvoll, entsprechende Orte – Verlage – zu haben, an denen die Koordination und Überwachung der notwendigen Aufgaben gebündelt ist. Als Beispiele für die fehlende Kontinuität im Hochschulkontext seien hier genannt:

  • Studiengänge und das zu vermittelnde Wissen verändern sich und entwickeln sich weiter. Das führt zur Notwendigkeit, Lehrmaterialien immer wieder zu aktualisieren, um neue Trends, Theorien und Entwicklungen einzubeziehen.
  • Die Technik und technischen Infrastrukturen verändern sich, was bedeutet, dass beständige technische Aktualisierungen notwendig sind, um Sicherheitslücken zu schließen, Datenschutzgrundlagen zu gewährleisten usw., aber auch, um Innovationen wie zum Beispiel KI zu nutzen, die Vermittlung zu optimieren.
  • Zeitlich begrenzte Projekte oder befristete Stellen können diese Notwendigkeiten nicht dauerhaft nachhaltig erfüllen. Am sichersten ist es, einen Player mit vitalem Eigeninteresse zu finden, der die Pflege in jeder Hinsicht regelmäßig aufrechterhält. Hier stellt sich die Frage, wie nachhaltige Geschäftsmodelle aussehen können, die einer längerfristigen Planung genügen.

Verlage haben sich im Hochschul- und Wissenschaftskontext als Dienstleister etabliert und pflegen seit Jahrzehnten ihre Kompetenzen in diesen – und weiteren – Bereichen.

Freilich ist es möglich, derartige Strukturen, Kompetenzen und Infrastrukturen auf Staatskosten an den Hochschulen zu etablieren – wie dies seit einiger Zeit verstärkt auch im Bereich der Hochschulverlage der Fall ist. Für mich stellt sich allerdings die Frage: Warum sollte man in den Neuaufbau und Ausbau investieren, anstatt die bestehende Arbeitsteiligkeit zu nutzen, die sich bereits bewährt hat?

 

Verlage als “Stabilisatoren”

Im Verlag fließen fachliche, konzeptionelle, didaktische, redaktionelle und technische Kompetenzen zusammen; Autor*innen können wechseln, ohne dass Lehrwerke, darunter auch OER, dadurch vollständig neu „erfunden“ werden müssen. Bei Lehrwerken ist dieses Vorgehen in Verlagen Standard und spiegelt sich bspw. in Neuauflagen wieder, die auch unter neuer Federführung erstellt werden.

Vor allem in unserem Lehrbuchprogramm, das wir unter der Marke utb veröffentlichen – eine Marke, die seit über 50 Jahren Lehr-Kompetenz für Studierende verfügbar macht – zeigen zahllose Neuauflagen die mögliche Dauerhaftigkeit gut durchdachter Lehrmaterialien. Es gibt nicht wenige Titel, bei denen Autor*innen ersetzt oder Herausgeber*innen ergänzt wurden, weil die ursprünglichen Autor*innen das Feld gewechselt haben oder aus anderen Gründen ausgeschieden sind.

Wissenschaftsverlage sind mit spezifischen Communitys dauerhaft in engem Austausch und bringen zugleich eine große Innovationskraft (und innere Innovationsnotwendigkeit) mit.

Der Verlag Barbara Budrich ist in „seine“ Fachbereiche eingebettet: Wir sind sowohl mit einzelnen Wissenschaftler*innen als auch mit einschlägigen Fachgesellschaften, Organisationen und Institutionen in einem dauerhaften Austausch. Dieser Austausch läuft auf unterschiedlichen Ebenen – von persönlich über fachlich-inhaltlich bis hin zu den Notwendigkeiten der alltäglichen Arbeit und weit darüber hinaus, in große Highlights des je eigenen Tuns.

Zeitgleich arbeiten Verlage als Wirtschaftsbetriebe immer im Jetzt und in der Zukunft: Im Austausch mit der Wissenschaft, mit anderen Verlagen national und international und mit weiteren relevanten Playern aus allen nur denkbaren Bereichen initiieren wir Innovationen. Diese Innovationen werden in der Hauptsache aus der eigenen Tasche bezahlt – die meisten gehen über erste Testphasen nicht hinaus, doch manche werden sehr erfolgreich. Das ist die Natur von Innovationen und die Basis erfolgreichen Wirtschaftens.

Durch das Zusammenspiel von Community-Notwendigkeiten, dem beständigen Austausch und dem laufenden Innovieren bieten Verlage das angemessene Umfeld, um Konzepte zu entwickeln, die auf die bestehenden Bedürfnisse passen und längerfristig durchführbar sind.

National wie international

Die internationale Kooperation funktioniert genau wie die nationale über einschlägige Communitys; diese zu pflegen liegt im Eigeninteresse eines Verlages.

Darüber hinaus gibt es auch im Rahmen der nationalen und internationalen Verlagsverbände – Börsenverein, Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher Verlage, FEP und IPA – einschlägige Vertreter*innen mit Kompetenz und (Markt)Kenntnissen, die für die weitere Entwicklung wichtig sind. So hat sich in der FEP eine entsprechende Fachgruppe einschlägig arbeitender Bildungsverlage herauskristallisiert, in deren Arbeit und Austausch wir einbezogen sind.

 

Ungeklärte Fragen: Alles CC0 oder was?

Die aktuelle Kultur in der Wissenschaft wie auch die grundlegenden Anforderungen an wissenschaftliches Arbeiten widersprechen an vielen Stellen der völligen Freigabe und dem beliebigen Weiterverwenden unterschiedlicher Materialien.

Über einen notwendigen Kulturwandel mit Blick auf Lehren, Lernen und das Verwenden bzw. Bearbeiten von Materialien Dritter – was von vielen Autor*innen, deren Materialien dafür zur Verfügung gestellt werden sollen, nicht goutiert wird – kann ich mich nur als Laie äußern. Durch meine Tätigkeit im Wissenschaftsverlag und meiner daraus resultierenden Kenntnis über den Wissenschafts- und Bildungsbetrieb sehe ich im aktuellen System zahlreiche Gepflogenheiten und Karriere-Voraussetzungen, die gegen eine konstruktive Fehlerkultur und einen völlig freien Umgang mit geistigem Eigentum sprechen, wie dies vom BMBF zur Vorbereitung der OER-Diskussion thematisiert wird. Allein die Quantifizierung (z.B. von Zitationen) zur Messung von (wissenschaftlicher) Qualität; die Notwendigkeit unzweifelhafter Autor*innenschaft bei der Bewertung wissenschaftlicher Qualität (Produktivität); Benotungen zur Bewertung von Kompetenz/Wissensstand (bei Lernenden/Studierenden) seien genannt. Zudem frage ich mich, ob das Abtreten von Autor*innenschaft und der damit einhergehenden Verantwortung für die von den jeweiligen Autor*innen verfassten Inhalte (wie dies im Netz vielfach geschieht), nicht zu einer „institutionalisierten Verantwortungslosigkeit“ führt.

 

Die Sache mit dem “bösen Kommerz”

Diskussionen um Open Access und OER bekommen nicht selten Schlagseite: Wissenschaftler*innen mit (festen) Stellen im Wissenschaftsbetrieb wie auch in der Verwaltung Tätige betrachten eigenverantwortliches wirtschaftliches Handeln mit Misstrauen. Von “irren Renditen” ist die Rede. Von der “Macht der Verlage”. Und davon, das Veröffentlichen “in der Wissenschaft zu halten”.

Ich stehe dem Generalverdacht der unterstellten Ausbeutung und ausgiebigen Selbstbedienung überrascht, bisweilen gar fassungslos gegenüber: Wir verstehen uns als Verlag als Partner unserer Wissenschaften. Wir haben ein vitales Eigeninteresse daran, ein qualitativ hochwertiges, thematisch einschlägiges Programm zu liefern. Es muss für unsere Zielgruppe erschwinglich sein, es muss ihr gefallen und nützen. Wir unterstützen, begleiten und beraten unsere Autor*innen, unsere Wissenschaftler*innen, ja selbst Kolleg*innen aus Hochschulverlagen und natürlich kooperieren wir mit Bibliotheken, Verwaltung, Politik. Wir engagieren uns dafür, unsere Wissenschaften in den Bereichen voranzubringen, in denen wir selbst sinnvoll aktiv werden können.

 

Bildungsgerechtigkeit und die Kostenlos-Mentalität

Die Forderungen nach freiem und kostenlosem Zugang für alle Menschen zu wissenschaftlicher und Bildungsliteratur mag einem hohen Ideal nach Bildungsgleichheit entspringen. Allerdings habe ich meine Zweifel, dass wir dadurch, dass wir versuchen, so viel Material wie möglich kostenlos anzubieten, automatisch zu einer größeren Bildungsgerechtigkeit kommen werden.

Wo die Hasen der Ungerechtigkeit im Pfeffer liegen – Mechanismen von Inklusion/Exklusion, Habitus und ganz praktische Dinge wie Anerkennung, Zeit und die schlichte Verfügbarkeit von Raum zum Lernen -, wissen unsere Ungleichheitsforscher*innen recht genau.

Ob “kostenlos” die Antwort auf die Frage nach der Bildungsungleichheit ist?

 

© Unsplash 2022 / Foto: Ben White