Wer liest das? Warum Sie sich Gedanken über Ihre Zielgruppe machen sollten und an welchen Stellen Ihnen das helfen kann

Barbara Budrich © Nina Schöner Fotografie

ein Beitrag von Verlegerin Barbara Budrich

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In der Wissenschaft gehen wir zumeist sehr selbstver­ständlich davon aus, dass wir für eine einzige homogene Zielgruppe schreiben. Wer soll unsere Texte schon lesen? Unsere Peers natürlich! Doch wenn wir einen Augenblick bei dieser Frage verweilen, fallen uns vielleicht weitere und durchaus andere Zielgruppen ein, für die wir schrei­ben: Bei einer Dissertation sind die Gutachter*innen die Zielgruppe Nr. 1. Werden wir eingeladen, einen Beitrag für ein Handbuch zu verfassen, sind es möglicherweise Peers mit einer anderen Spezialausrichtung. Jede Zeit­schrift hat ihre eigene Community und bietet unsere Tex­te je spezifischen Leser*innen an; je nach Ausrichtung finden sich in dieser Community vielleicht auch Men­schen, die in der Praxis tätig sind. Und schreiben wir gar für eine Tageszeitung, dürften wir uns darüber Gedanken machen, wie wir eine breitere Öffentlichkeit adressieren.

„Gut“, mögen Sie denken, „unterschiedliche Zielgrup­pen – und also?“ Das „Und Also“ liegt darin, dass nicht jede Zielgruppe auf dem gleichen Wissensniveau ist wie Sie. Nicht jede Zielgruppe ist an den gleichen Erkenntnis­sen in derselben Breite und Tiefe interessiert. Nicht jede Zielgruppe hat die gleichen Anknüpfungsmöglichkeiten. Aus der Perspektive der Leser*innen gesprochen: Jede Zielgruppe hat andere Ansprüche und Erwartungen an Ihren Text. Und hier kommt die Persona ins Spiel.

 

Die Persona

Die Persona ist eine Kunstfigur aus dem Marketing: Un­ternehmen machen sich Gedanken über ihre idealen Kund*innen (vgl. z.B. Häusel/Henzler 2018). Daraus wird eine Fantasiefigur entwickelt, die Persona, und diese Per­sona verkörpert die idealen Kund*innen-Charakteristika. Dabei geht es um soziodemografische Merkmale, wie Alter, Geschlecht, Bildungsgrad. Aber es geht auch um ideelle Einstellungen und Werte. Nicht selten werden in Unternehmen Personae entwickelt, die einen Namen bekommen und mehr als nur ein stereotyper Scheren­schnitt sind: So kann die Marketingabteilung sich sehr gezielt darum bemühen, genau diese Menschen anzu­sprechen.

Wenn Sie für Ihren jeweiligen Text nach diesem Muster eine*n optimale*n Leser*in erschaffen, kann dieses Tool Ihnen an zwei Stellen helfen: Zum einen bekommen Sie durch das interne Zwiegespräch mit Ihrer Persona eine Vorstellung davon, wie Sie Ihren Text ausrichten können und sollten. Zum anderen kann die Persona Ihnen sogar dabei helfen, Schreibblockaden zu überwinden.

 

Die richtige Ansprache für Ihre Persona

Zu Beginn Ihrer wissenschaftlichen Karriere bestimmt nicht so sehr die Textsorte und deren Zielgruppe die Art und Weise Ihres Schreibens. Für gewöhnlich arbeiten Sie mit einem „Register“: Sie schreiben „wissenschaftlich“, um den Ansprüchen Ihrer jeweiligen Dozent*innen oder Gutachter*innen zu genügen. Diese Ansprüche scheinen weitestgehend homogen. Die Frage nach Zielgruppe und angemessener Ansprache kommt nicht auf.

Dann kommt möglicherweise der Zeitpunkt, an dem Sie zum ersten Mal auf einer Konferenz einen Vortrag halten. Häufig ist auch die Form dieses ersten Vortrags wieder­um nicht davon abhängig, welche Zielgruppe Sie erwar­ten, sondern Sie bereiten Ihr Material und Ihren Vortrag „standardmäßig“ vor. Sobald Sie aber das erste Mal quasi Ihren wissenschaftlichen Zeh über die Linie Ihrer eigenen fachlichen Ausrichtung schieben, merken Sie, dass Ihr Publikum Schwierigkeiten bekommt: Sie werden nicht richtig verstanden.

„Know your audience!“ ist eine alte Weisheit für Vortra­gende, aber auch für Autor*innen. Letztlich ist Schreiben nicht viel anders als Vortragen: Es ist eine Form der (Wis­senschafts-)Kommunikation. Natürlich hat jede Form Eigenheiten, doch Vieles können Sie analog denken. Im Vortrag haben Sie für gewöhnlich die Möglichkeit, nach­zulegen: Wenn Sie feststellen, dass Ihr Publikum nicht folgen kann, können Sie erklären. Diese Chance haben Sie bei Ihrem Text in der Regel nicht.

Lassen Sie uns ein extremes Beispiel nehmen, damit deutlich wird, was ich meine. Angenommen, Sie pro­movieren in der Bildungsforschung. Sie konzentrieren sich auf einen Bereich, der bis in die Lehrpraxis von Be­deutung sein kann. Nun werden Sie eingeladen, Ihre Erkenntnisse für eine Tageszeitung aufzubereiten. Wäh­rend Sie im Schreiben für Ihre Dissertation darauf be­dacht sind, jeden Fachbegriff genau an die richtige Stel­le zu setzen, wissenschaftlich zu argumentieren und in einem möglichst anspruchsvollen Stil mit vielen Latinis­men zu schreiben – so haben Sie es gelernt –, dürfte dies die breitere Öffentlichkeit überfordern. Die Leser*innen einer Tageszeitung haben ein anderes Ziel: Sie wollen möglichst zügig und ohne große Anstrengung die für ihre Lebenswelt relevanten Informationen in einem kna­ckigen Format aufnehmen können.

Sie erarbeiten sich also eine Persona für diese Tageszei­tung: Erhard Schneider ist Diplom-Ingenieur, wohnt in ei­ner kleineren deutschen Großstadt und liest die Zeitung morgens im Zug auf dem Weg zur Arbeit. Seine Kinder studieren und da er selbst im Betrieb auch als Ausbilder tätig ist, hat er grundsätzlich ein offenes Ohr für Neue­rungen im Bereich der Didaktik.

Nun setzen Sie sich Erhard auf Ihre Schreibtischkante. Sie können mit ihm ins Gespräch gehen und herausfinden, was er wissen möchte. An welchen Stellen ist er bereits im Bilde? Welche Fachtermini sind angemessen? Wie vie­le Wörter pro Satz möchte er lesen, wie viele Schachtel­sätze verträgt er und welche Bilder sollen in seinem Kopf entstehen?

Wir sind uns einig darüber, dass Erhard weder ungebil­det ist noch intellektuell von Texten aus dem Bereich Lehrpraxis überfordert. Er verbindet lediglich mit dem Format „Artikel in einer Tageszeitung“ einen bestimmten Anspruch. Wenn Sie diesen Anspruch erfüllen, liest er Ih­ren Artikel (möglicherweise). Erfüllen Sie den Anspruch nicht, wird Erhard den Artikel nicht lesen – oder nicht mit Gewinn.

Natürlich kann Ihre Persona auch jemand aus Ihrem wis­senschaftlichen Kontext sein. Denn sehr häufig haben Sie in Ihrer wissenschaftlichen Schreibtätigkeit mit Peers im weitesten Sinne zu tun. Ihre Leser*innen sind näher an Ihren Erkenntnissen als unsere Persona Erhard. Und was Sie schreiben, darf ruhig voraussetzungsreicher sein. Doch achten Sie darauf, dass die Anknüpfungsfähigkeit auch für diejenigen Ihrer Peers erhalten bleibt, die einen anderen Schwerpunkt in ihrer je eigenen Arbeit haben. Damit erhöhen Sie das Potenzial für die Reichweite Ihres Textes.

Allerdings: Nur weil Sie versuchen, ein Spezialthema für eine breitere Öffentlichkeit darzustellen, gewinnen Sie nicht automatisch eine größere Leser*innenschaft. Mir geht es hier darum, dass Sie sich bewusst machen, wen genau Sie adressieren, um angemessen kommunizieren zu können.

Doch wenn Sie schon mit der Persona arbeiten, dann können Sie sie auch für einen zweiten Bereich nutzen.

 

Schreibblockaden überwinden dank Ihrer Persona

Manchmal schleicht sich beim Schreiben der Zweifel ein. Wir wissen nicht recht, wie wir in den Text einsteigen sollen. Kaum haben wir mit dem Schreiben begonnen, hadern wir mit der Relevanz dessen, was wir da verfas­sen. In solchen Phasen des Zweifelns, die in regelrechte Schreibblockaden ausarten können, kann die Persona helfen.

Sollten Sie beispielsweise an Ihrer Dissertation sitzen und nicht vorankommen, könnten Sie Ihrer Persona einen Brief schreiben. In diesem Falle würde ich Ihnen aber nur bedingt raten, Ihre Doktoreltern zur Persona zu machen. Das sollten Sie nur dann tun, wenn Sie diese als positiv, zugewandt und freundlich erleben. Haben Sie nämlich zu großen Respekt vor Ihrer Persona, wird Ihnen vermut­lich auch kein Brief helfen, den Einstieg in Ihren Text zu finden.

Die Persona, die Ihnen in derartigen Blockadesituationen helfen kann, darf ein warmherziger Mensch sein, bei dem es Ihnen leichtfällt, Schwächen zuzugeben. Diese Perso­na kann von einer realen Person abgeleitet sein – eine Tante, ein Onkel, ein Freund – oder auch frei erfunden wie „mein Freund Harvey“. Sie soll Ihnen ein Gegenüber bieten, das Sie freundlich und freundschaftlich begleitet.

Dieser Persona können Sie schriftlich Ihr wissenschaftli­ches Autor*innenherz ausschütten. Und indem Sie dies tun, kommen Sie ins Schreiben. Natürlich dürfen Sie spä­ter all jene Teile löschen, die zu stark an diesen Brief an die Persona erinnern. Mit dem Brief finden Sie ins Schrei­ben – das ist der Fokus dieser Methode. Mit einem wei­teren Ansatz finden Sie zwar nicht den direkten Weg in Ihren Text, doch können Sie mit Ihrer Persona im Ein-Per­sonen-Rollenspiel vielerlei Fragen klären.

 

Zwiegespräche mit der Persona – eine Anleihe aus der Psychotherapie

Das Ein-Personen-Rollenspiel (EPR) ist ein Werkzeug aus der Psychotherapie (vgl. z.B. Sachse 1983). Ob Sie das EPR verwenden, um einen Text Zielgruppen-adäquat auszurichten oder um eine Schreibblockade zu überwin­den – es lässt sich in beiden Fällen sinnvoll einsetzen.

Sie benötigen einen ruhigen Raum und zwei Stühle, die Sie einander gegenüberstellen. Wenn Sie sich auf den einen Stuhl setzen, sind Sie Ihr schreibendes Selbst. Wenn Sie sich auf den anderen Stuhl setzen, schlüpfen Sie in die Rolle Ihrer Persona. Beginnen Sie auf Ihrem eigenen Stuhl und stellen Sie Ihrer Persona eine Frage. Dann wechseln Sie den Platz (und damit die Perspektive) und beantworten diese Frage als Ihre Persona. Wenn Sie diese Übung das erste Mal machen, können Sie sich bes­ser darauf einlassen, wenn Sie unbeobachtet sind. Später können Sie ausprobieren, ein Mehr-Personen-Rollenspiel daraus zu machen: Jemand übernimmt Ihre Rolle und Sie sind die Persona. Oder was Ihnen sonst noch einfällt. Ich nutze dieses Tool zum Beispiel gern, um mich auf Ver­handlungen vorzubereiten. Und ich bin immer wieder erstaunt, wie machtvoll es ist.

 

Eine Persona für jeden Text

Vor einiger Zeit hatte ich eine Reihe für die Zeitschrift „Praxis Kommunikation“ zum Thema Schreiben verfasst. Für diese Texte hatte ich eine eigene Persona für mich entworfen, einen Coach. Denn Coaches sind die Haupt­zielgruppe dieser Zeitschrift. Wenn ich für die „Exposé“ schreibe, dann habe ich eine Kunstfigur vor meinem in­neren Auge, die sich aus den jungen Akademiker*innen zusammensetzt, mit denen ich in meinen Workshops und Schreibclubs vornehmlich arbeite. Wenn ich im Rahmen der Lobbyarbeit für deutsche Wissenschaftsverlage Texte verfasse, habe ich wiederum andere Adressat*innen im Blick. So kann es leicht passieren, dass nahezu jeder Text eine eigene Persona bekommt.

Nicht jede meiner Personae ist voll ausgeprägt und „le­bensfähig“. Das muss nicht sein, schließlich soll sie ein hilfreiches Tool sein, nicht eine separate Arbeitsaufgabe. Doch wenn ich ins Stolpern komme oder unsicher bin, was Ansprache und Stil angeht, dann setze ich mir gern meine Persona auf die Schreibtischkante oder den zwei­ten Stuhl und wir gehen in ein intensives Zwiegespräch. Denn ich weiß: Meine Persona liest den Text auf jeden Fall!

 

Dieser Artikel ist erschienen in

Exposé – Zeitschrift für wissenschaftliches Schreiben und Publizieren

Heft 1-2022: Schreiben in der Wissenschaft

 

 

 

©  Titelbild: unsplash.com | wes lewis © Foto Barbara Budrich: Nina Schöner Fotografie