Eine Leseprobe aus Unterrichtsstörungen und Konflikte im schulischen Feld. Pädagogische Perspektiven von Sophia Richter, Kapitel „Unterrichtsstörungen und Konflikte im schulischen Alltag. Entstehungsgeschichte, Intention und Aufbau des Buches“.
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Unterrichtsstörungen und Konflikte im schulischen Alltag. Entstehungsgeschichte, Intention und Aufbau des Buches
Sophia Richter
Unterrichtsstörungen und Konflikte gehören zum schulischen Alltag, sie werden vielfältig thematisiert und zumeist problematisiert. Ein Buch zu dem Thema kann an unterschiedlichen Stellen ansetzen, um das Phänomen zu erkunden. In diesem Buch werden Unterrichtsstörungen und Konflikte ausgehend vom schulischen Alltag in den Blick genommen und zum Gegenstand reflexiver Auseinandersetzungen gemacht. Im Zentrum stehen exemplarische Fallbeschreibungen aus dem Schulalltag, mit denen sich Autor*innen aus Wissenschaft und Praxis reflexiv und analytisch auseinandersetzen. Schulische Strukturen, Funktionen und Reformen werden dabei an unterschiedlichen Stellen kontextanalytisch einbezogen. Die praxisbezogenen sowie theoretisch-analytischen Perspektiven beleuchten die Fallbeschreibungen und zeigen in ihrer Zusammenschau vielfältige Dimensionen und Deutungsmöglichkeiten von Unterrichtsstörungen und Konflikten auf.
Im Folgenden erläutere ich zunächst die Entstehungsgeschichte des Buches, aus der sich zugleich die hier gewählte Perspektive und Herangehensweise ableitet (Kapitel 1). Anschließend beschreibe ich die Intention (Kapitel 2) sowie den Aufbau des Buches (Kapitel 3). Abschließend gebe ich zwei exemplarische Einblicke in schulische Alltagssituationen (Kapitel 4). Die Fallbeschreibungen bilden den Ausgangspunkt der einzelnen Beiträge.
1 Zur Entstehungsgeschichte des Buches
Der Entstehungsgeschichte dieses Buches liegen unterschiedliche Beobachtungen zugrunde, die ich im Folgenden kurz skizzieren möchte. Sie schließen zum einen an Unsicherheiten von (angehenden) Lehrkräften im Umgang mit Unterrichtsstörungen an und zugleich an einer personenzentrierten Denkweise von Problembewertung.
- Im Rahmen meiner ethnographischen Schulforschungen, auf die ich im Kapitel 4 noch näher eingehen werde, wurden von Seiten vieler Lehrkräfte und Referendar*innen Unterrichtsstörungen, spezifische Verhaltensweisen von Schüler*innen und Möglichkeiten des Umgangs mit diesen problematisiert – einhergehend mit dem Wunsch nach Unterstützung (vgl. Richter 2019). Die Schüler*innen wiederum problematisierten die Formen des Umgangs mit Unterrichtsstörungen seitens ihrer Lehrkräfte. Diese seien häufig ungerecht (vgl. Richter/Langer 2021). Es zeigte sich, dass das Thema sowie auch das Sprechen darüber zu zahlreichen Konflikten führt (vgl. Richter 2019). Zugleich gehören Unterrichtsstörungen sowie die Praktiken des Umgangs mit diesen zur „empirisch unbeleuchteten Seite der Erziehung“ (Radtke 2011: 162), sodass das Thema des Disziplinierens sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft durch Konflikte, Dethematisierung und Tabuisierung gekennzeichnet ist.
- In Lehrveranstaltungen und der Betreuung von wissenschaftlichen Abschlussarbeiten zeigt sich immer wieder, dass Studierende besorgt auf die bevorstehende Tätigkeit als Lehrkraft blicken – insbesondere bezogen auf die Frage, wie sie mit Unterrichtsstörungen pädagogisch umgehen können. Die Sorge impliziert die Annahme, nicht ohne spezifische Instrumente der Disziplinierung auskommen zu können. Auf der Suche nach Antworten und Orientierung wählen viele das Thema für ihre Abschlussprüfungen aus. Die Literaturrecherche erweist sich insofern als anspruchsvoll, als es wenig erziehungswissenschaftliche Beiträge zum Thema gibt – im Gegensatz zu Ratgebern, die Lösungen und Sicherheit versprechen und damit häufig einen hohen Anklang bei Studierenden finden.
- Eine weitere Beobachtung im Rahmen von Lehrveranstaltungen ist, dass Studierende in der Auseinandersetzung mit eigenen biographischen Beschreibungen ihrer Schulzeit, die ich regelmäßig zu Beginn einer Lehrveranstaltung schreiben lasse (vgl. Richter 2022), häufig das eigene kindliche und jugendliche Verhalten entwerten. Das beschriebene Gefühl kindlicher Ohnmacht, Trauer und Angst wird aus der Erwachsenenperspektive als Selbstverschulden gedeutet, ergänzt durch Selbstzuschreibungen wie „bockiges“, „anstrengendes“ oder „trödelndes“ Kind.
- Schließlich ist die Konjunktur von Ratgebern und Programmen, die Verhaltensweisen von Kindern oder Jugendlichen als problematisch etikettieren und dies zum Anlass unterschiedlicher Maßnahmen der Intervention oder auch der Förderung nehmen, Ausgangspunkt des Buches. Verwiesen sei hier exemplarisch auf das „Trainingsraumprogramm“ (vgl. Balke 2003; Bründel/Simon 2013). Die Komplexität unterrichtlicher Situationen wird in diesen zumeist linear-kausal entworfenen Programmen nicht in den Blick genommen.1
2 Zur Intention des Buches
Das vorliegende Buch sucht die Pluralität unterschiedlicher Ansätze im Dialog von Wissenschaft und Praxis zu entfalten und dabei zugleich die perspektivische Begrenztheit zu reflektieren. Ziel ist es, ein Denken in Möglichkeiten und Alternativen anzuregen, das sowohl bei der Erschließung der Gestalt von Unterrichtsstörungen als auch bei der Gestaltbarkeit im Umgang damit behilflich sein soll. In diesem Sinne versteht sich das vorliegende Buch als eine Sammlung von Beobachtungen und perspektivischen Möglichkeiten der Erschließung von Unterrichtsstörungen und/oder Konflikten, die jeweils Dinge sichtbar machen und andere ausblenden. In der Summe eröffnen sie Möglichkeiten des Denkens in Alternativen, indem sie als Seh-Instrumente zu Perspektivwechseln anregen und darüber neue Einblicke vermitteln, die wiederum alternative Bewertungs- und Handlungsmöglichkeiten eröffnen. So sollen die Beiträge zugleich Neugierde und Skepsis befördern sowie auf die Grenzen der Verallgemeinerbarkeit und Systematisierbarkeit hinweisen (vgl. Scheffer 2002: 371). Dabei können bereits die Begriffe ‚Unterrichtsstörung‘ vs. ‚Konflikt‘ Perspektivwechsel anregen, mit denen unterschiedliche Möglichkeiten der Erschließung einhergehen. Während der Begriff ‚Unterrichtsstörung‘ häufig mit Lösung/Beseitigung verbunden wird, zielt der Begriff ‚Konflikt‘ zunächst auf ein Verständnis von empirischen Wirklichkeiten (vgl. Dzengel/König 2015: 18).
Zwei Unterrichtsszenen bilden den Ausgangspunkt der einzelnen Beiträge in diesem Band. Diese werden von Lehrkräften, Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen unterschiedlicher Ansätze sowie ausgehend von differenten theoretischen Positionen und praktischen Erfahrungen in den Blick genommen und analysiert bzw. diskutiert. Dabei werden verschiedene Argumentationen und Positionen vorgetragen sowie unterschiedliche methodische Zugänge und theoretische Ansätze vorgestellt. Die Unterrichtsszenen bilden dabei einen kontinuierlichen Bezugspunkt, sodass die Beiträge vergleichend in ihren jeweiligen Erkenntnismöglichkeiten ausgelotet werden können. Zugleich eröffnen sich darüber Einsichten in die Komplexität pädagogischer Praxis und verschiedener Deutungsmöglichkeiten. Der Band soll in der Gesamtschau seiner Beiträge mannigfache perspektivische Möglichkeiten der Erschließung eröffnen und Gemeinsamkeiten und Differenzen innerhalb der unterschiedlichen Zugänge sichtbar machen. Die Pluralität der Perspektiven kann einzelne Perspektiven relativieren und dominierende Deutungen irritieren.
Die Idee, dass sich unterschiedliche Autor*innen in ihren Beiträgen auf ein identisches Material beziehen und dies zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nutzen, ist nicht neu. So finden sich Publikationen, die ein Unterrichtstranskript oder ein Interview mit Hilfe unterschiedlicher Interpretationsmethoden (vgl. Pieper et al. 2014; Richter 2000), sozialwissenschaftlicher Hermeneutiken (vgl. Heinze/Klusemann/Soeffner 1980) oder theoretischer Zuschnitte (vgl. Geier/Pollmanns 2016) vergleichend in den Blick nehmen.
Unterschiedliche Ansätze im Dialog von Wissenschaft und Praxis zu entfalten und dabei zugleich perspektivische Begrenztheiten zu reflektieren, geht mit der Herausforderung einher, sich auf jeweils unterschiedliche Logiken von Wissenschaft und Praxis, ihre unterschiedlichen „Sprachspiele“ (Wittgenstein 2003) und ihre jeweils eigene Dignität einzulassen und damit verbundene Spannungsverhältnisse auszuhalten, um Wege des Verstehens und der Verständigung eruieren zu können (vgl. Weigand 2022: 188f.). Die Beiträge können als Sehhilfen beim Beobachten dienen (vgl. Scheffer 2002: 370) und in der Summe Perspektivwechsel anregen. Die perspektivischen Erschließungen können als „Orientierungswissen“ (Marotzki/Jörissen 2008: 51f.) im Umgang mit herausfordernden Situationen fungieren, im Sinne eines Erwägens vielfältiger Möglichkeiten (vgl. Blanck in diesem Band).
Der Band richtet sich sowohl an Wissenschaftler*innen als auch an Lehrende und Studierende an Universitäten und Hochschulen sowie an Lehrkräfte aller Schulformen, schulpädagogische Fachkräfte und Akteur*innen schulischer Weiterbildung. Ergänzende Informationen zur Reihe „Pädagogische Einsichten: Praxis und Wissenschaft im Dialog“ sind unter folgendem Link zu finden: https://paedagogische-beziehungen.eu/buchreihe-praxis-wissen schaft-dialog/.
3 Zum Aufbau des Buches
Der Sammelband gliedert sich in drei Teile:
- Einleitende Gedanken,
- Perspektiven aus der Praxis und praxisbezogene Perspektiven sowie
- Theoretisch-analytische Perspektiven.
Während die Perspektiven aus der Praxis Einblicke in die Komplexität schulpädagogischen Handelns geben, indem sie Situationen, Überlegungen und Erfahrungen beschreiben, geben die praxisbezogenen Perspektiven Einblicke in unterschiedliche Ansätze, die Unterrichtsstörungen im Rahmen einer spezifischen Beziehungsgestaltung bearbeiten. Die theoretisch-analytischen Perspektiven veranschaulichen – insbesondere in ihrer Zusammenschau –, wie mit Hilfe von Theorien alternative Deutungen auf Situationen pädagogischer Praxis ermöglicht und Reflexionsprozesse angeregt werden können.
1 In Abgrenzung zu den linear-kausalen Programmen gibt es Ansätze, die die Komplexität schulischen Alltags reflexiv einbeziehen. Zu nennen sind hier u.a. Ulrike Becker (2023), Peter Herrmann (2018) oder Martina Hehn-Oldiges (2021).
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Die Autorin
Sophia Richter studierte Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von Oktober 2008 bis September 2022 war sie am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft, Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main angestellt. Sie promovierte zu dem Thema „Pädagogische Strafen“ und leitete von 2009 bis 2014 das ethnographische Projekt „GanztagsSchulKulturen“ (gemeinsam mit Prof. Dr. B. Friebertshäuser). Von Oktober 2017 bis September 2022 verantwortete sie im Dekanat des Fachbereichs Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität die Leitung der Masterstudiengangsentwicklung und -koordination sowie den Bereich der konzeptionellen und forschungsbezogenen Weiterentwicklung der Studienfachberatung. An der Eberhard Karls Universität Tübingen und der Pädagogische Hochschule Heidelberg übernahm sie diverse Lehraufträge und führte an verschiedenen Hochschulen Workshops für Promovierende durch. Von Oktober 2022 bis September 2023 vertrat sie am Institut für Schulpädagogik der Philipps-Universität Marburg die Professur Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Schulentwicklungsforschung. Seit Oktober 2023 ist sie Hochschulprofessorin für Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg in Österreich.
Über das Buch
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