„Wohlstand wird in Lehrbüchern nicht definiert.“ – Interview mit Autor Sebastian Thieme zu „Wohlstand“

Interview Sebastian Thieme

Was ist Wohlstand? Wie sehen die Geschichte des Begriffs sowie seine Verwendung in der Ökonomik aus und wo liegen Schwierigkeiten und Perspektiven der wirtschaftstheoretischen Auseinandersetzung? Wir haben ein Interview mit Autor Sebastian Thieme zu seinem neuen Buch Wohlstand. Ideengeschichtliche Positionen von der Frühgeschichte bis heute geführt.

 

Interview mit Sebastian Thieme

 

Lieber Sebastian Thieme, worum geht es in Wohlstand?

Es geht um Wohlstand im Plural, das heißt: die unterschiedlichen Verständnisse von Wohlstand, wie sie sich in der ökonomischen bzw. wirtschaftstheoretischen Perspektive zeigen.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Aktuell forsche ich an der Katholischen Sozialakademie Österreichs im Schwerpunkt „Wohlstand neu definieren“. Eigentlich wollte ich mich dazu erst einmal nur kurz über das aktuelle Begriffsverständnis auf den neusten Stand bringen. Wenn ich schon zu Wohlstand forsche, sollte ich auch wissen, worum es sich dabei handelt. Doch während der ersten Recherchen dazu stellte ich fest, dass „Wohlstand“ in Lehrbüchern nicht definiert wird, sondern die Autorinnen und Autoren offenbar voraussetzen, dass die Lesenden schon wissen werden, was „Wohlstand“ ist. Für mich zeichnete sich dann relativ schnell ein noch zu bewältigender Forschungsstand ab.

Deshalb intensivierte ich die Analyse des Begriffsverständnisses und schaute mir dazu systematisch an, wie „Wohlstand“ in ökonomischen Nachschlagewerken, in der Forschung zur ökonomischen Ideengeschichte (sowie bei zwei ausgewählten ideengeschichtlichen Autoren: Adam Smith und Ludwig Erhardt) sowie in ökonomischen Lehrbüchern thematisiert wird. Weil ich permanent verschriftliche und das Verschriftlichen auch als Reflexionsmethode nutze, lag dann nach vergleichsweise kurzer Zeit ein umfangreiches Manuskript vor, das nun die Buchform gefunden hat.

 

Was sind die größten Probleme beim Verstehen von Wohlstand?

Das ist eine schwierige Frage. Denn es existieren viele Probleme, die im Grunde so fundamental sind, dass ich damit hadere mit dem Vorsatz, sie in eine Rangfolge bringen zu wollen. Ein grundsätzliches Problem scheint mir, dass zu wenig über den Begriff selbst nachgedacht wird. Selbst Fachleuten scheint oft nicht bewusst zu sein, dass verschiedene Wohlstandsverständnisse nebeneinander existieren.

Der analytische Unterschied und gleichzeitig der systematische Zusammenhang zwischen Wohlstand und seinen Voraussetzungen scheint ebenfalls kaum eine Berücksichtigung zu finden. Das spielt vor allem in Debatten um Armut und Existenzsicherung eine Rolle und sorgt dort für Missverständnisse. Denn sicher gehört die Sicherung der soziokulturellen Existenz zum Wohlstand, aber wir würden sicher nicht von Wohlstand sprechen, wäre er lediglich auf die Existenzsicherung beschränkt.

Wenig ausgeprägt scheint mir die Sensibilität dafür, dass Wohlstand sehr oft in Narrative – d.h. in Werte, Werthaltung usw. vermittelnde Erzählungen – eingebettet ist (unsichtbare Hand, Wachstum usw.) und mit ethischen Fragen im Zusammenhang steht. Das wiederum ist mit einem sehr grundlegenden Problem der modernen Ökonomik verbunden: Fachleute der modernen Ökonomik verstehen ihre Disziplin als „objektive“, „wertfreie“ und nur den empirischen Fakten verpflichtete Wissenschaft. Es nimmt deshalb nicht wunder, wenn dann in ihren Augen für Narrative oder ethische Fragen kein Platz in der Ökonomik ist. Das provoziert mindestens blinde Flecken, d.h. das Verständnis von Wohlstand bleibt in der modernen Ökonomik unvollständig. Aus der Perspektive der modernen Ökonomik heraus scheint es auch schwierig, Wohlstand als grundsätzlich offenen und partizipativen Prozess, der zeit- und kulturbedingt ist, zu denken.

Es gibt also nicht nur ein Problem, sondern einen Komplex an fundamentalen Problemen.

 

Wird sich Ihrer Einschätzung nach der Wohlstandsbegriff in den nächsten Jahrzehnten wandeln oder eher gleichbleiben?

Nun, aktuell gibt es verschiedene alternative Wohlfahrtsmaße, etwa den Human Development Index oder den Happy-Planet-Index. Teils werden Wohlstandsberichte verfasst, etwa von der Arbeiterkammer in Österreich, in denen Wohlstand durch verschiedene Aspekte wie Lebensqualität sowie Vollbeschäftigung und gute Arbeit beschrieben wird. Insofern ist etwas Bewegung in die traditionelle Betrachtung von Wohlstand, die ihn am Bruttoinlandsprodukt misst, gekommen. Gleichzeitig ist mein Eindruck – und das ist auch ein Ergebnis meiner Beschäftigung mit „Wohlstand“ –, dass sich die Wohlstandsbegriffe nicht wandeln, sondern eher weiter spezifiziert werden und damit dann verschiedene Wohlstands-Verständnisse nebeneinander ko-existieren.

Die eben erwähnen alternativen Wohlfahrtsmaße lassen sich daher auch im Sinne einer Spezifizierung, als neo-quantitative Ansätze, verstehen. Das heißt, dass Wohlstand zwar nicht mehr so eng wie mit dem Bruttoinlandsprodukt gedacht wird, aber dennoch in zählbaren und verrechenbaren Einheiten. Das ist eine Weiterentwicklung, aber noch kein wirklich fundamentaler Wandel. Zwar gibt es bereits einzelne Vorstellungen, wie ein solcher Wandel aussehen könnte, zum Beispiel hin zu einem partizipativen, prozessorientierten Wohlstandsverständnis wie es Adelheid Biesecker und Stephan Kesting mit ihrer sozial-ökologischen Perspektive vertreten. Aber das wäre ein sehr starker Bruch mit dem herkömmlichen Verständnis von Wohlstand, so dass ich mit einem Wandel im Sinne der Etablierung eines solchen alternativen Verständnisses nicht so schnell rechne.

Meine Prognose ist: Vom Grundsatz eines quantitativen Verständnisses her wird die Vorstellung über Wohlstand gleichbleiben, sich aber spezifizieren zu einem breiteren Verständnis von Wohlstand auf Basis verschiedener quantifizierbarer Wohlstandsindikatoren.

 

Darum bin ich Autor bei Budrich

Ich habe schon mehrmals bei Budrich publiziert und schätze vor allem die professionelle, unkomplizierte, freundliche und entgegenkommende Zusammenarbeit. Es ist unglaublich, welche qualitativen Sprünge beim Manuskript durch die Zusammenarbeit noch möglich sind und welche kreativen Prozesse dabei freigesetzt werden. Kurz: Bei Budrich fühle ich mich einfach sehr wohl und gut aufgehoben.

 

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3D Cover Sebastian Thieme Wohlstand 150 pxSebastian Thieme:

Wohlstand. Ideengeschichtliche Positionen von der Frühgeschichte bis heute

 

 

 

 

Der Autor: Sebastian Thieme

Thieme, Sebastian ©2023 Emma Jelenz, ksœDr. Sebastian Thieme, Jahrgang 1978, aufgewachsen in Leipzig, Berufsabschluss Bürokaufmann (mit Belobigung) 1999, Abschluss Diplom-Volkswirt an der Universität Leipzig 2007, dann 2012 dort im gleichen Fach die Promotion (summa cum laude) zur Subsistenz als Moralprinzip und seiner Bedeutung in der Ökonomik, Tätig in verschiedenen Drittmittelprojekten zur „Pluralen Ökonomik“, mehrmals Vertretungsprofessor für VWL an der Hochschule Harz (2018/2019, 2019/2020) und Lehraufträge „Wirtschaft und soziale Verantwortung“/ Wirtschaftsethik (Alanus-Hochschule), seit Februar 2023 wissenschaftlicher Referent (Ökonomie) an der Katholischen Sozialakademie Österreichs. Forschungsschwerpunkte sind u.a.: Subsistenz, Wohlstand, Wirtschaftsethik/ ökonomisch und Normativität, Katholische Soziallehre, Sozialökonomik, Plurale Ökonomik/ heterodoxe Ökonomik, ökonomische Ideengeschichte, Wirtschaftsstilforschung, das Paderborner Erwägungskonzept, Sozialstaat, ökonomische Misanthropie. Persönliche Homepage: https://economicethics.blogspot.com/, auf X/Twitter zu finden unter: @economicethics

 

Über „Wohlstand“

Was ist Wohlstand? Der alltägliche Begriff beinhaltet uneindeutige Vorstellungen. In der Ökonomik wird „Wohlstand“ selten definiert, es existieren verschiedene Verständnisse nebeneinander und diese sind in spezifische Narrative eingebettet. Das Lehrbuch bietet einen systematischen Überblick über die Geschichte des Begriffs, seine Verwendung in der Ökonomik sowie Schwierigkeiten und Perspektiven der wirtschaftstheoretischen Auseinandersetzung. Durch die differenzierte Systematisierung bietet das Buch Studierenden der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften einen perfekten Ausgangspunkt für die tiefere Beschäftigung mit dem Thema Wohlstand.

 

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© Foto Sebastian Thieme: 2023 Emma Jelenz, ksœ | Titelbild gestaltet mit canva.com