Zehn Produktivitätsprinzipien für Schreibende: Die Focus-Session oder wie das Schreiben im Home-Office gelingt

Focus-Session Gruppe junger Menschen sitzt um einen Tisch und arbeitet an Laptops

Die Focus-Session als Tool für das wissenschaftliche Schreiben

Wissenschaftliche Texte entstehen nicht unbedingt in Universitätsbüros. Sie werden auch im Zug, zu Hause, im Café oder im Ferienhaus geschrieben. Das Home-Office ist daher schon immer ein natürliches Habitat für Wissen­schaftler*innen gewesen. Durch die Maßnahmen zur Ein­dämmung der Corona-Pandemie wurde diese Situation jedoch zu einem kollektiven, permanenten und nicht selbstbestimmten Zustand. Plötzlich waren da noch an­dere Haushaltsmitglieder im Home-Office. Der Schreib­platz mutierte nun auch zum Konferenzraum und diente als Spielzimmer. Gleichzeitig brachen viele Strukturen und Alltäglichkeiten weg. Einsamkeit und/oder bedrän­gende Familiensituationen überschatteten die sowieso schon herausfordernde Arbeitssituation.

All dies lieferte uns als Schreibcoaches den Anlass, uns dem Schreiben im Alltag methodisch neu zu widmen. An Retreats und Auszeiten in Gemeinschaft, wie im Schreib­aschram (eine Woche außeralltäglicher Schreibidylle auf dem Land mit konzentrationsförderndem Rahmen) war nun nicht zu denken. Und die Frage, wie diese, dort von allen Schreibenden erlebte besondere Produktivität in den Alltag übertragen werden kann, war auch vor dem Beginn der Pandemie nicht zufriedenstellend beantwor­tet. Auf das Produktivitäts-High im Schreibaschram folg­te allzu oft der ernüchternde Alltag.

Unsere Antwort auf diese Herausforderung war die Gründung des Online-Coworking-Spaces für Wissen­schaftler*innen, THE WRITING ACADEMIC. Statt eines kompletten Rückzugs in eine produktivitätsfördernde Umgebung ohne Ablenkungen, bietet das dort prakti­zierte Online-Coworking, auch „Silent-Coworking” ge­nannt, Inseln der Konzentration inmitten des prall gefüllten akademischen und familiären Alltags. Es funktioniert völlig ortsunabhängig und wird den verschiedenen Ta­gesabläufen von sehr beschäftigten Menschen gerecht. THE WRITING ACADEMIC ist heute, anderthalb Jahre nach seiner Gründung, eine florierende Community von Wissenschaftler*innen, die aus der wenigen Zeit, die sie haben, maximalen Schreiberfolg herausholen – und sich dabei gegenseitig unterstützen. Und das auch außerhalb aller Pandemiebedingungen im ganz normalen Uniall­tag.

Der Schreiberfolg ergibt sich dabei nicht nur aus der Gemeinschaft des Coworkings, sondern gelingt durch die Praxis der Focus-Session. Diese von uns entwickelte hocheffektive Produktivitätsmethode ist eine struktu­rierte Variante des Silent-Coworking. Eine Focus-Session dauert immer eine Stunde, wovon 50 Minuten ausgewie­sene Konzentrationszeit sind. Die Session ermöglicht ei­nen intentionalen und klar umgrenzten Arbeitsvorgang. Wir nutzen Zoom, um als Gruppe arbeiten zu können. Dabei geht es nicht nur ums stille Nebeneinanderher-Ar­beiten, sondern um einen festen Zeitrahmen mit immer wiederkehrendem, konzentrationsinduzierendem Ab­lauf. Die Methode ist, unter anderem, inspiriert von Cal Newports „Deep Work” und Chris Bailey’s „Hyperfocus”. Sie basiert auf den folgenden zehn Prinzipien für produk­tives Schreiben:

  1. Investieren Sie nicht zu viel Zeit…

… denn Sie haben sie nicht. Eine Stunde Schreibzeit fin­det sich auch im gefülltesten Kalender. Kurze Zeitfenster dynamisieren Ihre Arbeitsweise; der Zustand des sog. Hyperfocus wird so möglich. Lieber eine Stunde am Tag wirklich etwas machen, als ganze Tage für das Schreib­projekt zu reservieren und dann nur halb konzentriert zu arbeiten oder gar nicht anzufangen.

  1. Setzen Sie eine konkrete Intention

In jede Focus-Session starten Sie mit einem konkreten Ziel. Sie setzen eine Intention und definieren, was Sie in der Zeit erreichen möchten. Ohne klar gesetzte Aufgabe gibt es keinen Fokus. Die Session beginnt daher mit der Frage: Welchen konkreten Schritt können Sie in 50 Minu­ten wirklich machen? So wissen Sie am Ende auch, dass Sie Ihr Ziel erreicht haben und lassen sich nicht von spon­tanen Gedanken an andere Aufgaben ablenken.

  1. Üben Sie sich in Kleinschrittigkeit

Der klare Zeitrahmen einer Focus-Session (50min) und das Be­nennen der konkreten Aufgabe am Anfang unterstüt­zen Sie dabei, kleine regelmäßige Schritte zu machen. Ein Textprojekt zerlegen Sie in Häppchen, die Sie dann Session für Session bearbeiten. Dies hilft gegen den un­gesunden Arbeits-Exzess, der häufig in Erschöpfungs­zuständen endet. Radikale Kleinschrittigkeit ermöglicht es Ihnen, einen wirklichen Schreiballtag aufzubauen, in dem das Schreiben zur Routine wird. Ihr Zeitmanage­ment wird realistischer. Und Realismus tut uns Schrei­benden gut.

  1. Befreien Sie sich von Ablenkungen

Üben Sie es, Ablenkungen von sich fernzuhalten, be­vor sie zu einer Störung werden könnten. Bei einer Fo­cus-Session sind daher zwei Minuten eingeplant, um Störquellen konsequent auszuräumen: Das E-Mail-Pro­gramm ist aus, Ihr Handy geht für die 50min der Focus- Session auf Flugmodus oder wird in einen anderen Raum gelegt; unnötige Tabs im Browser werden geschlossen. Kommunizieren Sie Kolleg*innen oder der Familie, dass jetzt Ihre ungestörte Fokuszeit ist. Ein Schild an der Tür, ein Termineintrag im Kalender oder feste Absprachen helfen dabei enorm.

  1. Bevor Sie schreiben: Aktivieren Sie Ihren Körper

Beim Schreiben tritt der Körper in den Hintergrund. Konzentration ist ein körpervergessener Zustand. 3 bis 4 Minuten Tanzen oder Stretchen reichen bereits, um in die 50 Minuten Konzentrationszeit gut abtauchen zu können. Zusätzlich bieten diese kleinen Bewegungsein­heiten einen gesunden Ausgleich zur sitzenden Tätigkeit des Schreibens. Die Bewegung bringt Ihr Herz-Kreis­laufsystem in Schwung: Das erhält Sie denkfähiger, gibt Energie – und macht den Arbeitsalltag lustvoller. Manche innere Hürde oder Blockade, eine Aufgabe anzugehen, lässt sich sehr gut körperlich abschütteln.

  1. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit bewusst aus

Durch die Intention setzen Sie sich für jede Fokus-Session eine klare Aufgabe. Verbinden Sie sich vor dem Schrei­ben ganz bewusst mit ihr. Die Energie, die durch das Tan­zen in Ihrem Körper frei geworden ist, darf sich gleich voll auf diese Aufgabe richten. Pflegen Sie vor dem Schreiben einen kurzen Moment des Innehaltens: ein paar bewuss­te Atemzüge mit geschlossenen Augen. Kommen Sie bei sich an und malen Sie sich aus, wie es sich anfühlen wird, Ihre Aufgabe erledigt zu haben. Schenken Sie sich Ihre volle Aufmerksamkeit und sammeln Sie Ihren Fokus.

  1. Ziehen Sie es durch: Bleiben Sie für 50 Minuten sitzen

Während der Arbeitsphase geht es darum, wirklich sit­zen zu bleiben. Damit ist nicht nur das Aufstehen vom Stuhl gemeint, sondern auch das mentale Abwandern. Unser Gehirn produziert ständig Exit-Strategien, wenn eine Aufgabe schwer oder langweilig ist. Es gibt Momen­te beim Schreiben, an denen man meint, unbedingt re­cherchieren zu müssen. In kleinen Zeitfenstern können Sie üben, wirklich bei Ihrer Aufgabe zu bleiben. Auch und sogar gerade, wenn das Schreiben unangenehm wird. Bleiben Sie dran und bringen Sie den Gedankengang zu Ende. So erreichen Sie auch eine klare Trennung zwi­schen Arbeitszeit und Pause. Bei vielen Schreibenden, die auf Fokusmethoden verzichten, verschwimmt diese Trennung schnell und es stellt sich das belastende Ge­fühl ein, nie richtig zu arbeiten, und gleichzeitig immer zu arbeiten.

  1. Machen Sie echte Pausen

Dabei lässt sich der sehr effektive Zustand von Hyper­focus nur erreichen, wenn Sie zwischendurch immer wieder Abstand von der Arbeit nehmen und sich rege­nerieren. Erst aus der Polarität von Konzentration und Entspannung entsteht echte Produktivität. Fatalerweise hören wir von Wissenschaftler*innen: „Für Pausen habe ich keine Zeit!”. Es muss nicht immer gleich ein stunden­langer Spaziergang sein. Auch ein Blick aus dem Fenster, eine Tasse Tee oder das Einräumen des Geschirrspülers können Ihnen dabei helfen, sich von der Arbeit zu lösen und sie dann erfrischt anzugehen. Pausen sind die not­wendige Vorbereitung auf die Konzentration; ihre Quali­tät bestimmt die Intensität des Fokus und sie sind integ­raler Teil jedes erfolgreichen Schreibprozesses.

  1. Würdigen Sie Ihre Fortschritte

In strukturlos dahinfließenden Arbeitstagen, oder wenn wir von Termin zu Termin hecheln, vergessen wir meist zu würdigen, was wir gerade geschafft haben – und wie es uns dabei erging. Nicht jede Fokusphase kann gleich produktiv sein, nicht jeder Versuch zur Konzentration in den Hyperfocus führen. Jede Focus-Session endet daher mit einem bewussten Checkout: Sie werden gefragt, was neu entstanden ist und wie es Ihnen geht. Diese kurze Reflexion führt Sie nach und nach zu einer guten Selbst­kenntnis und einem echten Gefühl für das Schreiben als Prozess. Oft ist unser Augenmerk nur auf das gerichtet, was noch zu tun ist, auf den großen Berg, der vor uns liegt. Die vielen kleinen Schritte, die wir bereits geschafft haben, sind aber, was uns ermutigt, weiterzugehen. Wir raten allen Schreibenden, Rituale zu finden, um sich selbst zu würdigen. Die Anerkennung von außen kommt oft erst nach sehr langer Zeit.

  1. Begreifen Sie sich als übend

Schreiben ist keine Theorie, Schreiben ist eine Praxis. Wirklich besser darin werden Sie nicht durchs Darüber- Sinnieren, auch nicht durchs Lesen dieses Textes. Man kann jahrelang durch das vermeintliche Erlernen von Schreibstrategien und Produktivitäts-Hacks prokrasti­nieren. Kommen Sie ins Tun! Jeder Text ist eine Übung für den nächsten. Diese Sicht auf das Schreiben ändert vieles: Sie entlastet Sie von oft zu hohen Ansprüchen an das eigene Können. Wie bei vielen Sportarten geht es um das Praktizieren, und nur durch Wiederholung erlernen Sie neue Fähigkeiten und etablieren Routinen.

Diese zehn Prinzipien sind theoretisch leicht verständlich und werden bereits vielfach erfolgreich angewandt. Sie selbst umzusetzen und das Schreiben nachhaltig in den eigenen Alltag zu integrieren, kann trotz ihrer Einfach­heit zur Herausforderung werden. Um diesen individu­ellen Kraftakt zu schmälern, übersetzt die Focus-Session die Prinzipien in eine gelebte Praxis.16 Mal täglich und zu immer gleichen Zeiten starten in unserem Online- Coworking-Space THE WRITING ACADEMIC angeleitete Focus-Sessions. Von früh bis spät ist es so möglich, in wertschätzender Gemeinschaft Schreibroutinen aufzu­bauen und das Schreiben effektiv zu praktizieren. Ihr Text kommt voran, Ihr Schreibmuskel wird trainiert, schon bei nur ein oder zwei Sessions pro Woche.

Durch die festen Startzeiten, die Gemeinschaft und den immer gleichen Ablauf der Focus-Session, können sich auch viel beschäftigte Schreibende in eine Routine fallen lassen und regelmäßig qualitativ an ihren Texten arbei­ten. Zeit- und kraftraubende Mikroentscheidungen zur Ausgestaltung der effektiven Arbeitszeit fallen weg: Sie können sich aufs Wesentliche konzentrieren: Ihr Schrei­ben.

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Die Autorinnen

Gruppenfoto von Ingrid Scherübl, Katja Günther, Wiebke Vogelaar

Katja Günther, Ingrid Scherübl und Wiebke Vogelaar sind die Gründerinnen von THE WRITING ACADEMIC, dem Online-Coworking-Space für Wissenschaftler*innen. Gemeinsam unterstützen sie seit August 2020 mit dem Format der Focus-Session und als Coaches ihre Community, damit diese inmitten des prall gefüllten akademischen Alltags herausragenden Schreiberfolg erzielt. www.thewriting-academic.com

Wiebke Vogelaar: M.A. in Internationalen Beziehungen, Ph.D. von der Graduate School of Transnational Studies, Schreibberaterin (Hochschulzertifikat, PH Freiburg), Achtsamkeitstrainerin. www.achtsamschreiben.de

Ingrid Scherübl: Dipl. Mediendramaturgin, Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis, Gestalt-Coach, Systemische Kommunikationstrainerin. www.schreibaschram.de

Katja Günther: M.A. der Romanistik/Anglistik, Gestalt-Therapie, Focusing, Systemisches Coaching und Aufstellungsarbeit. www.faden-verloren.de

 

Dieser Artikel ist erschienen in

Exposé – Zeitschrift für wissenschaftliches Schreiben und Publizieren

Heft 1-2022: Schreiben in der Wissenschaft

 

 

 

 

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