Systematisch Bildungsaufstiege durch gezielte Maßnahmen provozieren und nicht dem Engagement Einzelner oder dem Zufall überlassen, wie geht das? Ein Gastbeitrag von Magdalena Bienek und Franziska Proskawetz.
***
Bildungsaufstiege als Normalfall?
Mehr als jede fünfte Person zwischen 35 und 44 Jahren in Deutschland verfügt über einen höheren Bildungsabschluss als beide Elternteile und kann damit als „Bildungsaufsteiger*in“ bezeichnet werden. Unter den Akademiker*innen ist der Anteil der Aufsteiger*innen entsprechend höher: So waren im Jahr 2020 mehr als die Hälfte der Personen (57 Prozent der 25- bis 34-Jährigen und 54 Prozent der 35- bis 44-Jährigen) mit akademischen Abschlüssen Bildungsaufsteiger*innen (Anger und Geis-Thöne 2023) und damit Erstakademiker*innen in ihrer Familie. In der Studierendenschaft hingegen sind Personen ohne einen akademischen Familienhintergrund zunehmend in der Minderheit. Dieser Trend ist auch eine Folge der Bildungsexpansion und Höherqualifizierung der Bevölkerung und damit nicht zwangsläufig ein Indiz für eine Verschlechterung der Zugangschancen zur hochschulischen Bildung. Die sozialen Disparitäten beim Hochschulzugang gelten vielmehr als relativ stabil (Kroher et al. 2023). Beim Blick auf die altersgleiche Bevölkerung fällt jedoch auf, dass junge Menschen nichtakademischer Herkunft im Hochschulsystem deutlich unterrepräsentiert sind – in Deutschland haben insgesamt weniger als 30 Prozent aller jungen Erwachsenen mindestens ein Elternteil mit einem akademischen Abschluss (Kracke et al. 2018), der Anteil der Studierenden mit einem akademischen Familienhintergrund liegt im Jahr 2021 jedoch bei 56 Prozent (Kroher et al. 2023, S. 27).
Trotz dieser sozialen Selektivität beim Hochschulzugang gehört knapp die Hälfte aller Studierenden somit zu den sogenannten „Studierenden erster Generation“ (first generation students), die auch als „Studienpioniere“ oder „Erststudierende“ bezeichnet werden. An den Hochschulen für angewandte Wissenschaften sind sie sogar in der Mehrheit. Diese Studierenden sind entweder bereits Bildungsaufsteiger*innen (wenn ihre Eltern keine (Fach-) Hochschulreife haben) oder lassen sich nach ihrem ersten akademischen Abschluss als Bildungsaufsteiger*in bezeichnen.
Bildungsaufsteiger*innen stellen somit eine große Gruppe an den deutschen Hochschulen dar. Ein Blick auf die sozialen Unterschiede beim Verlauf des Studiums und der weiteren akademischen Karriere deutet jedoch darauf hin, dass das Hochschulsystem für Studierende nichtakademischer Herkunft weniger anschlussfähig zu sein scheint als für Studierende mit familiärer Hochschulerfahrung.
Soziale Selektion in der Hochschullaufbahn
Junge Menschen nichtakademischer Herkunft beginnen nicht nur deutlich seltener ein Studium, sie brechen ihr Studium auch häufiger ab (Isleib 2019). Dementsprechend schließen Studierende der ersten Generation auch seltener einen Bachelor- oder Masterstudiengang ab. Zudem absolvieren sie seltener einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt (Kroher et al. 2023) und sind in den Begabtenförderungswerken, obwohl diese vermehrt Bildungsaufsteiger*innen fördern möchten, deutlich unterrepräsentiert (Middendorff et al. 2009). Obwohl sich der Anteil der Bildungsaufsteiger*innen, der promoviert, erhöht hat, ist die Wahrscheinlichkeit einer Promotion für Kinder von Akademiker*innen dreimal so hoch wie für Kinder aus Nichtakademikerfamilien (Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft 2021). In der Professor*innenschaft stammt der Großteil aus Familien mit höchsten und gehobenen Berufspositionen, nur etwa jede*r zehnte Professor*in stammt aus einer Arbeiterfamilie (Möller 2015).
Die Herkunft prägt die Startbedingungen
Schon zu Studienbeginn haben Bildungsaufsteiger*innen mit besonderen Herausforderungen zu kämpfen: Bildungsaufsteiger*innen erlangen ihre Hochschulzugangsberechtigung vermehrt z.B. über ein Berufskolleg oder den zweiten Bildungsweg. Sie verfügen damit über andere Startvoraussetzungen als gymnasial geprägte Studierende. Neben möglicherweise unterschiedlichen fachlichen Voraussetzungen (z.B. in Folge von fehlendem Fachunterricht an Schulen in benachteiligten Lagen), können Bildungsaufsteiger*innen oft nicht auf Wissen, Erfahrungswerte und Netzwerke der Familie oder des sozialen Umfelds zurückgreifen, um sich in der unbekannten Welt der Universitäten und Fachhochschulen zurechtzufinden.
Die Aufnahme eines Studiums ist, wenn die familiären finanziellen Ressourcen begrenzt sind oder vollständig fehlen, zudem mit spezifischen Herausforderungen verknüpft. Erhalte ich BAföG und wie gehe ich mit der „Verschuldung“ um? Wie kann ich den ersten Semesterbeitrag bezahlen, wenn mein BAföG-Antrag noch nicht bewilligt ist? Kann ich mir eine Wohnung am Studienort leisten? Diese und viele weitere Fragen können zu Unsicherheiten zu Studienbeginn führen oder sogar dazu, dass ein Studium, trotz entsprechender Bildungsaspiration und Zugangsvoraussetzungen, erst gar nicht aufgenommen wird. Wenn junge Menschen bildungsbenachteiligter oder nichtakademischer Herkunft trotz der finanziellen Hürden ein Studium beginnen, sind sie häufiger abhängig von Nebenjobs (Kroher et al. 2023). Der Wunsch nach einer schnelleren Einmündung ins Erwerbsleben führt dazu, dass Optionen in der weiteren akademischen Bildungsbiografie einschränkt sind.
Wie sich wissenschaftlicher Nachwuchs ausrichten und bestehen kann
Um im Hochschulsystem, dessen Prozesse eher als veränderungsträge charakterisiert werden, erfolgreich zu sein, können Bildungsaufsteiger*innen einige Schritte unternehmen. Sich langfristige Ziele zu setzen und diese in kleinere, weniger einschüchternde Ziele zu übersetzen, könnte einen ersten Schritt darstellen. Trotz Unsicherheiten sollten Studierende und Nachwuchswissenschaftler*innen es wagen, alle sich ihnen bietenden Chancen zu ergreifen: sich als Studierende um eine Stelle als studentische Hilfskraft bemühen, um schon früh Kontakt zu Professor*innen und Arbeitsgruppen zu knüpfen und das System Hochschule kennenzulernen und zugleich das notwendige Einkommen zu erarbeiten. Als Nachwuchswissenschaftler*in aktive Rollen auf (auch internationalen) Tagungen einnehmen, mögliche Mentor*innen (auch außerhalb von Mentoringprogrammen) kontaktieren, an Schreibgruppen und Forschungswerkstätten teilnehmen und sich Peer-Feedback einholen. Nebenbei können sich Nachwuchswissenschaftler*innen so ein umfangreiches Netzwerk aufbauen.
Bildungsaufsteiger*innen gezielt fördern
Für (Nachwuchs-)Wissenschaftler*innen bieten sich umso mehr Gelegenheiten, Studierende zu fördern, je fortgeschrittener die eigene akademische Karriere ist. Hier stellt sich besonders die Frage, wie Akteur*innen an Universitäten und Fachhochschulen gezielt die Gruppe der Studierenden aus nichtakademischen Elternhäusern fördern und auf deren Bedarfe eingehen können, um so einen Beitrag zur Chancengerechtigkeit im Hochschulbereich zu leisten und gleichzeitig erfolgreiche Studienabschlüsse zu fördern. Denn:
Möglichkeiten der Nachwuchsförderung für Dozierende bieten sich vor allem im direkten Kontakt zu Studierenden, bspw. im Rahmen von Lehrveranstaltungen. Dafür ist es wichtig, sich zunächst sensibel und offen für die (potenziellen) Bedarfe der Studierenden zu zeigen und Wissen zum System Hochschule nicht als selbstverständlich vorauszusetzen. Ein Vertrauensverhältnis zu den Studierenden aufzubauen, eine Fehlerkultur zu etablieren und Leistung im Lebenskontext anzuerkennen sind grundlegende Schritte, ebenso wie das Angebot regelmäßiger Sprechstunden, in denen alle Fragen und Anliegen vertraulich besprochen werden können. Klare Kommunikation der Erwartungen an die Studierenden, und dabei nicht unbedingt umfangreiches Vorwissen vorauszusetzen, ist ebenfalls essenziell, um Missverständnisse zu vermeiden.
Es kann hilfreich sein, die Studierenden zu Beginn eines neuen Semesters auf Beratungsangebote oder Netzwerke der Hochschule aufmerksam zu machen (z.B. Netzwerke, die sich an Bildungsaufsteiger*innen richten oder auf Angebote der Schreibzentren) sowie auf Stipendien und weitere finanzielle Fördermöglichkeiten, bspw. für Auslandaufenthalte, hinzuweisen.
Für Stipendien der Begabtenförderung haben auch Dozierende und Prüfungsämter ein Vorschlagsrecht. Von diesem Vorschlagsrecht wird nicht immer Gebrauch gemacht, damit gehen Chancen zur Förderung von leistungsstarken und engagierten jungen Menschen verloren. Insbesondere bei Studierenden, die aufgrund ihrer Herkunft über keine entsprechenden Netzwerke verfügen, kann ein Stipendium erheblich zur Potenzialentfaltung beitragen.
Neben dem Lehrbetrieb bieten sich auch außerhalb der Lehre Möglichkeiten zur Förderung an: sich selbst als Mentor*in, z.B. im Rahmen eines Mentoringprogramms, anzubieten und/oder Studierenden einen Einblick in eine Karriere in der Wissenschaft in Form von Praktika oder Nebentätigkeiten als studentische Hilfskräfte zu ermöglichen sowie sich aktiv am Aufbau von Netzwerken und weiteren Fördermöglichkeiten zu beteiligen.
Talente fördern, Leistung im Kontext anerkennen, Bildungsaufstiege provozieren
Um systematisch Bildungsaufstiege durch gezielte Maßnahmen und Förderangebote zu provozieren und nicht dem Engagement Einzelner oder dem Zufall zu überlassen, bedarf es institutioneller Prozesse und Perspektiven. Ansatzpunkte dafür können sein:
- die gezielte und adressatengerechte Ansprache von leistungsfähigen Talenten, die eine akademische Bildungsbiografie bislang nicht in Erwägung ziehen,
- die Überwindung herkunftsbedingter Einstiegsbarrieren bzw. die Verbesserung von Einstiegsvoraussetzungen, z.B. im sprachlichen und mathematischen Bereich,
- die Verbesserung von Studienbedingungen durch die Berücksichtigung zielgruppenspezifischer Bedürfnislagen zur Senkung der Anzahl von Studienabbrüchen.
Die dafür erforderliche Haltung fußt auf der Wahrnehmung junger Menschen als Talente, deren Potenziale es zu adressieren gilt. Der Fokus auf Talente mit unterschiedlichen Startvoraussetzungen erfordert etwas anderes als eine Logik, die sich an Defiziten ausrichtet und entsprechende „Reparaturmaßnahmen“ ableitet. Vielmehr gilt es, den Blick auf Leistung im Lebenskontext zu richten. Bei der Perspektive wird zum einen anerkannt, wenn junge Menschen z.B. mit geringen finanziellen Ressourcen für Bildungsinvestitionen, mit eingeschränkter Lerninfrastruktur oder trotz umfassender familiärer Verpflichtungen gute Prüfungsleistungen erbringen. Zum anderen offenbart ein erweiterter Blick auf Fähigkeiten (z.B. auf Sprachkenntnisse, organisatorische Fähigkeiten, gesellschaftliches Engagement oder unternehmerische Aktivitäten) individuelle Potenziale junger Menschen, die sich nicht immer direkt in Noten abbilden lassen, aber Anknüpfungspunkte zur Förderung und für die weitere Bildungsbiografie bieten. Die beschriebenen Ansatzpunkte und die potenzialorientierte Perspektive auf junge Menschen sind Grundlage der institutionalisierten Talentförderung in Nordrhein-Westfalen. Mit dem Talentscouting (siehe Infokasten) besteht in NRW, sowie mittlerweile auch in weiteren Bundesländern, ein Beratungsangebot für insbesondere junge Menschen aus nichtakademischen oder bildungsbenachteiligten Milieus. Durch die langfristige Begleitung und Beratung können Hemmschwellen abgebaut, Informationslücken geschlossen, Zugänge geschaffen und somit Bildungsaufstiege gefördert und provoziert werden.
Ein Gewinn für alle
Das Bewusstsein über die besonderen Herausforderungen für Bildungsaufsteiger*innen, aber auch ihre Potenziale, kann für beide Seiten gewinnbringend sein: Studierende können eigene Erfahrungen und ggf. Differenzerfahrungen besser einordnen und entsprechend damit umgehen. Lehrenden kann ein Blick auf den Lebenskontext ihrer Studierenden zu einem besseren Verständnis und damit auch zu einer gezielteren individuellen Förderung verhelfen. Letztlich trägt die Förderung von Bildungsaufstiegen nicht nur zu mehr Chancengerechtigkeit bei, sondern birgt auch Potenziale für die Hochschulen, indem in Zeiten abnehmender Studierendenzahlen und unbesetzter Stellen proaktiv ein Beitrag zur Sicherung des wissenschaftlichen Nachwuchses geleistet wird.
Das Programm NRW-Talentscouting
Das Programm NRW-Talentscouting wird seit 2015 vom nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministerium gefördert. Basierend auf den Erfahrungen der Westfälischen Hochschule, die den Ansatz bereits 2011 entwickelte, wurde das Talentscouting zunächst als befristetes Projekt und seit 2021 als verstetigtes Programm landesweit umgesetzt. Ab dem Jahr 2024 werden von 100 Talentscouts, die hauptamtlich an 23 Fachhochschulen und Universitäten in Nordrhein- Westfalen angestellt sind, fast 30.000 Schüler*innen von rund 550 weiterführenden Schulen, die zum Abitur führen (Berufskollegs, Gesamtschulen, Gymnasien), in Nordrhein-Westfalen begleitet und beraten.1
Das Talentscouting richtet sich insbesondere an engagierte Schüler*innen aus weniger privilegierten oder nichtakademischen Familien. Im Fokus stehen junge Menschen, die zum einen über eine hohe Leistungsorientierung verfügen, Eigeninitiative zeigen oder sich gesellschaftlich engagieren und zum anderen ihre Potenziale aufgrund ihres Lebenskontextes nicht in vollem Umfang ausschöpfen können, z. B. weil ihr soziales Umfeld wenig Unterstützung im Bereich der Berufs- und Studienorientierung bereitstellen kann oder Zugänge zu Netzwerken und damit zu Stipendien, Praktika und Auslandsaufenthalten fehlen. Die Talentscouts suchen die Talente in den Kooperationsschulen auf und führen mit ihnen persönliche Beratungsgespräche, um sie individuell beim nachschulischen Übergang zu begleiten. Die Begleitung durch einen Talentscout ist möglichst langfristig angelegt, die Schüler*innen können bereits ab Beginn der Oberstufe am Talentscouting teilnehmen. Das Angebot ist freiwillig und die Beratung ergebnisoffen, sodass der Weg sowohl in eine Berufsausbildung als auch ein (duales) Studium oder z.B. in einen Freiwilligendienst oder einen Auslandsaufenthalt (im Rahmen eines gap years) führen kann. In den persönlichen Beratungsgesprächen werden dialogisch Interessen, Potenziale und Ziele identifiziert und weiterentwickelt. Durch den langfristigen und individuellen Ansatz können Orientierungsprozesse befördert, Informationen zu Berufsausbildungs- und Studienmöglichkeiten sowie Rahmenbedingungen vermittelt und mit praktischen Erfahrungen verbunden werden. Ein zentraler Bestandteil der Begleitung ist die Bestärkung der Jugendlichen und die Entwicklung von Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Die Talentscouts zeigen den Jugendlichen Umsetzungswege auf. Dazu gehört auch, Zugänge zu bestehenden Förderinstrumenten (wie z.B. Akademien und Stipendien) zu eröffnen und soziale Selektivitäten bei bestehenden individuellen Förderformaten systematisch zu überwinden (Kottmann und Bienek 2023). Auch nach dem nachschulischen Übergang stehen die Talentscouts als Ansprechpersonen zur Verfügung, wenn die jungen Erwachsenen dies wünschen.
___
1 Die Wirksamkeit des Talentscoutings auf Chancengerechtigkeit beim Hochschulzugang (Erdmann et al. 2022) sowie die vielfältige Anschlussfähigkeit des Talentscoutings für junge Menschen (Bienek 2023) sind wissenschaftlich belegt.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Exposé – Zeitschrift für wissenschaftliches Schreiben und Publizieren Heft 1-2024 erschienen.
***
Bildungsaufsteige: die Autorinnen
Magdalena Bienek ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am NRW-Zentrum für Talentförderung der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, Bocholt, Recklinghausen. Sie ist dort im Arbeitsbereich Forschung & Entwicklung tätig und beschäftigt sich mit aktuellen Themen und dem Wissenschafts-Praxis-Transfer im Bereich Talentförderung und Bildungsforschung. Im Rahmen ihrer Promotion in den Bildungswissenschaften hat sie zur Berufsfindung und dem Talentscouting von Abiturient*innen nichtakademischer Herkunft geforscht.
Dr. Franziska Proskawetz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Evangelischen Johanneswerk in Bielefeld sowie im Forschungs- und Promotionszentrum TiFo – Tiefes Forschen der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Sie beschäftigt sich mit Themen der Organisations- und Talententwicklung im Schulsystem und in Pflegeeinrichtungen und hat zu Themen der Talentförderung promoviert.
Mehr zum Thema wissenschaftliches Schreiben …
… finden Sie auf unserem Blog.
© Titelbild: pexels.com | Samantha Garrote ; Autorinnenfotos: privat