Wie angewandte Sexualwissenschaft für Care-Berufe etablieren?

Gastbeitrag Angewandte Sexualwissenschaft für Care-Berufe

Wie lassen sich sexuelle Fragestellungen nachhaltig in die Ausbildung von Care-Fachkräften integrieren? Ein Gastbeitrag zum Thema angewandte Sexualwissenschaft für Care-Berufe von Stefan Hierholzer

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Die angewandte Sexualwissenschaft für Care-Berufe hat in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. In einer Zeit, in der Themen wie sexuelle Vielfalt, geschlechtliche Identität und sexuelle Gesundheit immer mehr in den Vordergrund rücken, wird es zunehmend wichtiger, diese Themen in die Ausbildung und Studium von Fachkräften im Care-Bereich zu integrieren. Aber wie lässt sich die nachhaltige Integration sexueller Fragestellungen in die Ausbildung von Care-Fachkräften sicherstellen? Dieser Beitrag beleuchtet die aktuelle Relevanz dieses Themas und gibt Einblicke in die Herausforderungen und Chancen, die sich aus der Einführung sexualwissenschaftlicher Inhalte in die Ausbildung und das Studium von Fachkräften in Pflege, Erziehung, Therapie und anderen Care-Berufen ergeben.

 

Angewandte Sexualwissenschaft für Care-Berufe – eine interdisziplinäre Annäherung

Sexualität betrifft alle Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialer Herkunft. Sie ist nicht nur ein biologisches Phänomen, sondern auch eine soziale, kulturelle und psychologische Dimension, die eng mit der Identität und dem Wohlbefinden eines Menschen verknüpft ist. Gerade im Care-Bereich, der von engen und vertrauensvollen Beziehungen geprägt ist, spielen sexuelle Fragestellungen eine zentrale Rolle. Fachkräfte in diesem Bereich müssen sich daher nicht nur ihrer eigenen Sexualität bewusst sein, sondern auch kompetent und einfühlsam auf die sexuellen Bedürfnisse und Fragen der Menschen eingehen können, die sie betreuen, bilden und ggf. erziehen.

Die interdisziplinäre Natur der Sexualwissenschaft ist von zentraler Bedeutung für den Care-Bereich. Sexualität wird nicht nur biologisch, sondern auch in psychologischen, sozialen, kulturellen und spirituell-religiösen Kontexten verstanden. Gerade im Umgang mit Kindern, älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen, Menschen in prekären bzw. vulnerablen Lebenskontexten müssen Fachkräfte wissen, wie sexuelle Bedürfnisse und Identitäten in verschiedenen Lebensphasen ausgedrückt, erlebt und gegenüber Dritten dargestellt werden können. Die Sexualwissenschaft bietet hier einen umfassenden Rahmen, der die individuelle Sexualität im gesellschaftlichen Kontext betrachtet.

 

Herausforderungen der Integration von Sexualwissenschaft in Ausbildung und Studium

Die Integration von Themen wie Sexualität und Geschlechtsidentität in die Ausbildung und das Studium von Fachkräften im Care-Bereich ist mit verschiedenen Herausforderungen verbunden. Eine der größten Hürden ist die kulturelle und institutionelle Tabuisierung dieser Themen. Obwohl Sexualität ein grundlegendes menschliches Bedürfnis darstellt, wird sie in vielen Ausbildungskontexten oft vernachlässigt oder nur oberflächlich behandelt. Diese Tabuisierung kann dazu führen, dass Fachkräfte im Umgang mit sexuellen Themen unsicher sind oder unzureichend vorbereitet in die Praxis starten.

Ein weiterer Aspekt ist die Diversität der sexuellen und geschlechtlichen Identitäten. Die moderne Sexualwissenschaft hat gezeigt, dass es weit mehr als nur die binären Kategorien „männlich“ und „weiblich“ gibt. Die Vielfalt der Geschlechter und sexuellen Orientierungen ist eine Realität, mit der Fachkräfte im Care-Bereich vertraut sein müssen. Besonders wichtig ist dabei, dass sie diese Vielfalt nicht nur tolerieren, sondern aktiv anerkennen und unterstützen. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der sexuellen und reproduktiven Menschenrechte herzustellen und in demokratischen Staaten durchzusetzen. Eine Ausbildung / ein Studium, das sowohl theoretisches Wissen als auch praxisnahe Methoden erarbeiten lässt, ist daher unerlässlich.

 

Sexualität in unterschiedlichen Lebensphasen aber lebenslänglich

Ein weiterer Aspekt, der in der Ausbildung / im Studium von Care-Fachkräften Berücksichtigung finden muss, ist die Lebensspanne der sexuellen Entwicklung. Sexualität begleitet den Menschen von der Geburt bis zum Tod und nimmt in den verschiedenen Lebensphasen unterschiedliche Formen an. Im Kindesalter geht es vor allem darum, das eigene Körperbewusstsein zu entwickeln, Grenzen zu erkennen und ein grundlegendes positives Verständnis der eigenen Sexualität zu fördern. Im Erwachsenenalter rücken Themen wie Intimität, Partnerschaft und sexuelle Selbstbestimmung in den Vordergrund, während im Alter oft Fragen der sexuellen Gesundheit und des emotionalen Wohlbefindens thematisiert werden.

Die Sexualwissenschaft hilft dabei, Vorurteile und Missverständnisse abzubauen und die Bedürfnisse von Menschen in verschiedenen Lebensphasen zu verstehen. Die Ausbildung von Care-Fachkräften sollte daher nicht nur die biologischen Aspekte der Sexualität abdecken, sondern auch die psychologischen und sozialen Dimensionen beleuchten. Dies ermöglicht eine ganzheitliche Betreuung, die den individuellen Bedürfnissen der betreuten Menschen gerecht wird.

 

Sexualpädagogische Konzepte und sexuelle Bildung in Ausbildung und Studium

Ein zentraler Baustein der nachhaltigen Integration von Sexualwissenschaft in der Ausbildung und im Studium von Care-Berufen ist die Entwicklung und Realisierung sexualpädagogischer Konzepte sowie sexueller Bildung. Diese Konzepte sollten nicht nur theoretische Inhalte, sondern auch praxisorientierte Module enthalten, die den Umgang mit sexuellen Fragestellungen im Arbeitsalltag der Fachkräfte thematisieren. Hierbei ist es wichtig, dass die Lernenden eine wertreflektierende und professionelle Haltung entwickeln, die es ihnen ermöglicht, auf die individuellen Bedürfnisse der von ihnen betreuten Menschen einzugehen.

Darüber hinaus sollten solche Konzepte auch Fortbildungsangebote für bereits tätige Fachkräfte umfassen. Die Sexualwissenschaft ist ein sich ständig weiterentwickelndes Feld, und neue Erkenntnisse müssen kontinuierlich in die Praxis integriert werden. Lebenslanges Lernen ist in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung, um eine zeitgemäße und professionelle Betreuung sicherzustellen. Nur durch regelmäßige Fortbildungen und Supervisionen kann sichergestellt werden, dass Fachkräfte stets auf dem neuesten Stand der Wissenschaft und der gesellschaftlichen Debatte sind.

 

Praxisbeispiele: Sexualität in der Altenpflege und Behindertenhilfe

Ein Bereich, in dem die Integration sexualwissenschaftlicher Fragestellungen besonders herausfordernd ist, ist die Altenpflege. Häufig wird die Sexualität älterer Menschen ignoriert oder tabuisiert. Dabei zeigt die Forschung, dass auch ältere Menschen sexuelle Bedürfnisse haben und diese aktiv leben möchten. Die Ausbildung von Altenpfleger*innen muss daher sicherstellen, dass die Fachkräfte ein Bewusstsein für die Sexualität im Alter entwickeln und in der Lage sind, diese Bedürfnisse zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren.

Ein weiteres Feld ist die Behindertenhilfe. Menschen mit Behinderungen haben, wie alle anderen auch, ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Hier stoßen Fachkräfte oft auf besondere Herausforderungen, etwa im Hinblick auf die Kommunikation über sexuelle Bedürfnisse oder den Umgang mit Sexualassistenz. In der Ausbildung von Fachkräften für die Behindertenhilfe müssen diese Themen explizit behandelt werden, um eine professionelle und menschenrechtsbasierte Betreuung sicherzustellen. Besonders in diesem Bereich ist die Erarbeitung einer offenen und inklusiven Haltung gegenüber der sexuellen Selbstbestimmung entscheidend.

 

Sexualtherapie als Ergänzung zur Ausbildung

Neben der sexualpädagogischen Ausbildung spielt auch die Sexualtherapie eine wichtige Rolle in der Arbeit von Care-Fachkräften. Sexualtherapie kann für Personen, die sexuelle Schwierigkeiten oder Herausforderungen erleben, eine wertvolle Unterstützung bieten. Care-Fachkräfte, insbesondere in therapeutischen Berufen, müssen ein grundlegendes Verständnis der Prinzipien der Sexualtherapie haben, um Menschen kompetent begleiten zu können, die mit sexuellen Problemen kämpfen.

In der Sexualtherapie wird oft ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt, der sowohl körperliche als auch psychologische und soziale Aspekte der Sexualität berücksichtigt. Die Therapeuten arbeiten mit Einzelpersonen oder Paaren, um Themen wie sexuelle Dysfunktionen, sexuelle Traumata oder Beziehungsprobleme zu bearbeiten. Care-Fachkräfte können von einem erweiterten Verständnis der Sexualtherapie profitieren, insbesondere wenn sie in Bereichen arbeiten, in denen sexuelle Fragestellungen häufig auftreten, wie z. B. in der Pflege, der Behindertenhilfe oder der Psychotherapie. Sie müssen in der Lage sein, sexuelle Probleme zu erkennen und ihre Klienten gegebenenfalls an spezialisierte Therapeuten zu verweisen.

Ein Beispiel für die Anwendung sexualtherapeutischer Prinzipien in der Praxis ist die Arbeit mit älteren Menschen, die nach dem Verlust eines Partners mit neuen sexuellen Bedürfnissen konfrontiert sind. Hier kann eine enge Zusammenarbeit zwischen Pflegefachkräften und Sexualtherapeuten helfen, emotionale und psychische Belastungen abzubauen und die sexuelle Gesundheit zu fördern. Ähnliche Ansätze können auch in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen oder in psychotherapeutischen Settings angewendet werden, in denen sexuelle Probleme eine zentrale Rolle spielen.

 

Fazit: Zukunft der sexualwissenschaftlichen Ausbildung in Care-Berufen

Die nachhaltige Integration sexueller Fragestellungen in die Ausbildungen und Studiengänge von Care-Fachkräften ist eine der großen Herausforderungen der kommenden Jahre. Sie erfordert nicht nur eine fachliche Auseinandersetzung mit den Themen Sexualität und Geschlecht, sondern auch eine Veränderung der kulturellen und institutionellen Haltungen gegenüber diesen Themen. Nur durch eine umfassende und wertschätzende Ausbildung können Fachkräfte im Care-Bereich auf die individuellen Bedürfnisse der von ihnen betreuten Menschen eingehen und so zu einer Verbesserung der Lebensqualität beitragen.

Der Weg dorthin führt über eine intensivere Verankerung der Sexualwissenschaft in der Ausbildung / im Studium, die sowohl theoretisches Wissen als auch praktische Handlungsstrategien thematisiert und reflektiert. Eine ständige Weiterentwicklung der Ausbildungsinhalte, unterstützt durch Fort- und Weiterbildungen, ist dabei ebenso notwendig wie der offene Umgang mit der Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Identitäten in den Care-Berufen. Nur so lässt sich eine inklusive und menschenwürdige Betreuung sicherstellen, die den Bedürfnissen aller Menschen gerecht wird.

 

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Cover Hierholzer Angewandte Sexualwissenschaft für Care-Berufe 150 pxStefan Hierholzer:

Angewandte Sexualwissenschaft für Care-Berufe. Ein Lehr- und Arbeitsbuch

 

 

 

 

Der Autor

Stefan Hierholzer ist Schulleiter der Pädagogika Fachschule für Sozialwesen.

 

Über „Angewandte Sexualwissenschaft für Care-Berufe“

Sexualität ist ein elementares menschliches Bedürfnis. Die Spannung zwischen übersexualisierter Darstellung und vielschichtigen sexuellen Herausforderungen zeigt die Breite menschlicher Sexualität. Care-Fachkräfte stehen in diesem Zusammenhang vor komplexen Aufgaben, die in Ausbildungen oft zu kurz kommen. Der Autor nimmt sich dieser Thematik an und bietet einen tiefgehenden Einblick in die Herausforderungen der Sexologie. Er setzt sowohl den Fokus auf die Skizzierung sexueller Fragestellungen als auch auf die nachhaltige Integration dieser Thematik in Ausbildung und Forschung.

 

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© Titelbild: gestaltet mit canva.com