Normativität und Professionalität: Zwei oft getrennt voneinander betrachtete Diskurse zusammen denken, das tut Sebastian Hempel in seinem Buch Normativität und Professionalität Sozialer Arbeit. Eine arbeitsfeldübergreifende Rekonstruktion. Eine Leseprobe.
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Normativität und Professionalität Sozialer Arbeit: Einleitung
Soziale Arbeit sieht sich derzeit mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, die ihren normativen Kern betreffen. Neben den Problemen, die eine fortschreitende Ökonomisierung wohlfahrtsstaatlicher Angebote seit nunmehr ca. drei Jahrzehnten mit sich gebracht haben und die sich direkt auf verschiedene Handlungskontexte Sozialer Arbeit auswirken (u. a. Nadai 2012; Seithe 2012; Anhorn 2020), sind es zunehmend auch die massiven Auswirkungen globaler Krisen und Transformationsprozesse, die Soziale Arbeit als Disziplin und Profession verstärkt auf die Notwendigkeit einer normativen Selbstvergewisserung und -positionierung aufmerksam machen. Nicht zuletzt wird dieser Impuls durch den einsetzenden Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit verstärkt, verbunden mit der Befürchtung einer Deprofessionalisierung (Franz et al. 2024). Doch fällt zugleich auf, dass sich Forschung Sozialer Arbeit bis dato allenfalls marginal mit der Frage auseinandersetzt, was überhaupt als handlungspraktisch wirksam werdender normativer Kern Sozialer Arbeit zu verstehen sein könnte. Mit der vorliegenden Arbeit versuche ich mich diesem Kern anzunähern, indem ich auf Grundlage einer rekonstruktiven Studie die für die Soziale Arbeit zentralen Diskurse zu Normativität und Professionalität zusammenführe, um auf diese Weise einen empirisch fundierten Beitrag zu einer Vertiefung des Professionalitätsverständnisses im Kontext der normativen Rahmungen Sozialer Arbeit zu leisten.
Die Verknüpfung der beiden oft getrennt voneinander betrachteten Diskurse ist zugleich eine Auseinandersetzung mit den disziplinären Grundfesten Sozialer Arbeit. So steht die Frage nach der Normativität Sozialer Arbeit in direkter Verbindung mit der Bestimmung ihrer grundlegenden Ziele und Funktionen – und damit einhergehend auch mit Klärungen, welche Eingriffe zur Erreichung welcher Ziele ethisch begründbar sind. Einfacher ausgedrückt: Im Diskurs um Normativität ist die grundsätzliche Frage berührt, „um was es in der Sozialen Arbeit geht und um was es gehen soll“ (Otto/Ziegler 2012: 3). Diese Frage ist immer auch auf den Einzelfall herunterzubrechen. Hierbei zeigt sich, dass professionellem Handeln explizit, aber auch implizit zum Ausdruck kommende „Überzeugungen“ (Weber 2014) vorgeschaltet sind, die sich im Modus subjektiver Bewältigungsweisen entfalten – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Adressat*innen1. Eingefordert wird vor diesem Hintergrund eine kritisch-reflexive Bezugnahme auf die in diesen Bewältigungsweisen sichtbar werdende eigene Normativität (ebd.: 10).
Auffällig ist, dass Auseinandersetzungen mit Normativität Sozialer Arbeit überwiegend auf der Ebene theoretischer Abhandlungen stattfinden, die kaum Bezüge zur Praxis Sozialer Arbeit aufweisen (z. B. bei Kraus 2018; 2022; Oelkers/ Feldhaus 2011; Otto/Ziegler 2012). Sie nehmen somit nicht die alltagspraktische Herstellung von Normativität in den Blick, also jene Tatsachen, die für Adressat*innen Sozialer Arbeit unmittelbar als machtvolles professionelles Handeln erfahrbar werden. Es bedarf somit eingehender empirischer Auseinandersetzungen mit der Frage, wie sich Normativität Sozialer Arbeit praktisch entfaltet (Otto/ Ziegler 2012: 6).
Ist von Professionalität Sozialer Arbeit die Rede, gehen hiermit unterschiedliche Konnotationen und Zuschreibungen einher. Diese beziehen sich sowohl auf die (gesellschafts-)politische Ebene, z. B. hinsichtlich der Frage, mit welchen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten Professionen bzw. Berufe ausgestattet werden und wie sich dies auf Organisationen auswirkt (Klatetzki 2012), als auch auf eher formelle, also methodologisch begründete Auseinandersetzungen mit der Frage, was überhaupt auf Grundlage welcher Beobachtungen als Professionalität zu verstehen ist (Bohnsack 2020a; Schütze 2021; Helsper 2021; siehe hierzu auch Kubisch/Franz 2022: 416 ff.).
Im alltäglichen Sprachgebrauch zeigt sich die Verknüpfung zwischen dem Normativen und dem Professionellen jedoch insbesondere in der Zuschreibung bestimmter, in der Regel positiv assoziierter Eigenschaften wie Kompetenz, Verantwortungsbewusstsein oder Vertraulichkeit. Dabei steht das Professionelle im dialektischen Sinne immer bereits in Beziehung zum Unprofessionellen und somit zur Möglichkeit eines Unterlaufens etwaiger Ansprüche. Die hierin erkennbar werdende Erwartungshaltung ist auch mit Blick auf die erwünschten Wirkungen professionellen Handelns Sozialer Arbeit vorherrschend: Denn wer Soziale Arbeit in Anspruch nimmt, darf eine parteiliche, auf wissenschaftlichem Wissen basierende, an einer (auszuhandelnden) Form der Besserung orientierte und an die spezifischen Gegebenheiten des Einzelfalls angepasste Befassung mit dem zu bearbeitenden Problem erwarten. Nicht zuletzt durch solch grundlegende Ansprüche unterliegt der Professionalitätsbegriff unvermeidlich normativen Rahmungen, denen man sich nicht entziehen kann (Kubisch 2018: 174).
Und dennoch muss für das Verständnis der methodologischen Grundausrichtung der vorliegenden Arbeit zunächst der Versuch unternommen werden, genau diesen normativ gefärbten Blick auf Professionalität weitestgehend zu suspendieren. So rahme ich Professionalität Sozialer Arbeit hier im praxeologischen Sinne (Bohnsack 2014; 2017) vorerst nicht als etwas, das Sozialarbeiter*innen1, wie auch immer begründet, tun sollen, sondern vielmehr als Ausdruck ihrer Handlungspraxis selbst, also dessen, was sie tatsächlich tun bzw. unterlassen. Unterstellt ist hiermit, dass Sozialarbeiter*innen qua ihrer machtvollen Funktion als Professionelle handeln, ohne dass diese begriffliche Bestimmung mit weiteren qualitativen Setzungen verbunden werden muss. Ziel der empirischen Analysen im Rahmen dieser Arbeit ist vor diesem Hintergrund somit nicht ein an bestimmten Hypothesen orientierter Abgleich, ob Sozialarbeiter*innen gut oder richtig handeln. Vielmehr geht es zunächst um die Rekonstruktion der handlungspraktischen Herstellung von Normativität, also um die grundlegende Frage, wie sich Normativität im so verstandenen professionellen Handeln von Sozialarbeiter*innen implizit entfaltet. Erst in einem nächsten Schritt erfolgt eine einordnende Auseinandersetzung mit den rekonstruierten handlungsleitenden Orientierungen der Sozialarbeiter*innen und mit der Frage, in welchem Verhältnis Normativität und Professionalität vor dem Hintergrund der im Rahmen der Arbeit rekonstruierten Handlungstypen zueinander stehen.
Als Grundlage der Arbeit dienen die dokumentarischen Interpretationen von sechs Gruppendiskussionen (Bohnsack et al. 2009; Loos/Schäffer 2021) mit Teams bzw. Kolleg*innen aus drei verschiedenen Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit sowie die dokumentarische Analyse von Bildern (Bohnsack 2011; Bohnsack et al. 2015), die mir von den Gruppen im Vorfeld der Gruppendiskussionen zur Verfügung gestellt wurden. Mit diesem triangulativen Vorgehen (Hoffmann 2015; Dörner et al. 2019; Stützel 2019) sowie dem arbeitsfeldübergreifenden Forschungsansatz wähle ich einen Forschungszugang, der im Kontext der rekonstruktiven Erforschung der Handlungspraxis Sozialer Arbeit in dieser Form noch nicht beschritten wurde.
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1 Aus Gründen der Gerechtigkeit, vor allem aber aus Respekt gegenüber dem Leid, das Menschen aufgrund struktureller Ausschlüsse erfahren, unterstütze ich das Ziel, dass sich niemand durch hegemoniale sprachliche Normalitäten ausgeschlossen fühlen soll. Mit der Verwendung des Gendersternchens verfolge ich somit den Anspruch, sprachlich vermittelte geschlechtliche Zuordnungen zu vermeiden, die nichts mit Anliegen und Gegenstand dieser Arbeit zu tun haben.
2 Mit Sozialarbeiter*innen sind alle Personen gemeint, die über ein abgeschlossenes Studium der Sozialen Arbeit, Sozialarbeit oder Sozialpädagogik verfügen. Die Zusammenführung in einer Bezeichnung erfolgt im Rahmen dieser Arbeit insbesondere aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung und angenehmeren Lesbarkeit. Auch passt sich diese Bezeichnung konsistent an den übergeordneten und mittlerweile fest etablierten Begriff Soziale Arbeit an.
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Sebastian Hempel: