„Ich bin noch beim Einlesen“ oder „Ich sollte jetzt endlich mit dem Schreiben beginnen“ – solche oder ähnliche Aussagen höre ich von Studierenden und Promovierenden oft. Meist liegt diesen Aussagen eine Vorstellung zugrunde, nach der sich eine wissenschaftliche Arbeit bzw. ein Promotionsprojekt klar in eine Lese- und eine Schreibphase gliedern lässt. Auch in Ratgebern zum wissenschaftlichen Schreiben treffe ich häufig auf Darstellungen, die eine lineare Abfolge von Phasen wie beispielsweise einlesen, Daten erheben bzw. Material bearbeiten, Inhalte strukturieren, schreiben, revidieren suggerieren.
Die Phasenmodelle sind aus dem durchaus berechtigten didaktischen Bemühen heraus entstanden, die komplexen Lese-, Forschungs- und Schreibprozesse auf Teilprozesse herunterzubrechen und somit überschau- und kontrollierbarer zu machen. Sie berufen sich oft auf Schreibprozessmodelle wie dem einflussreichen Modell von Flower und Hayes, die in ihrem Ur-Modell drei zentrale Schreibprozesse annehmen (Flower/Hayes 1981: 370):
- Planen als Ziele setzen, Ideen finden und organisieren
- Formulieren als Übersetzen von Ideen in sprachliche Form
- Revidieren als Überprüfung und Überarbeiten des geschriebenen Textes
Solche Schreibprozessmodelle erwecken den Eindruck, dass es sich um eine distinktive Abfolge dieser Prozesse als Phasen handelt. Allerdings haben schon Flower und Hayes selbst die Vorstellung von Schreibphasen kritisiert und sprechen stattdessen von Denkprozessen, die nicht linear, sondern rekursiv verliefen (Flower/Hayes 1981: 367). Auch beim wissenschaftlichen Schreiben bildet diese strikte Trennung in Phasen die Schreib- und Forschungsrealität nicht adäquat ab, besonders auch bei größeren Projekten wie der Promotion (vgl. „Promovieren als handlungsorientiertes Projekt“ von Dagmar Knorr in Exposé 1 2021).
Lesend und schreibend im Promotionsprojekt Informationen erschließen
Wenn Sie sich alle Lese-, Forschungs- und Schreibprozesse vor Augen führen, die im Rahmen eines Promotionsprojekts anstehen, so zeigt sich schnell, dass Lesen und Schreiben enger verzahnt sein müssen, als die Phasenmodelle es nahelegen. Streng genommen gehören sogar Prozesse in anderen Modalitäten dazu (vgl. Schmohl 2020:108): Im Rahmen einer Dissertation beispielsweise lesen wir Texte anderer, erstellen dazu aber auch Notizen, Mindmaps oder Zusammenfassungen. Vielleicht diskutieren wir Texte in einem Doktorierenden-Workshop oder hören von einer relevanten Theorie auf einer Tagung. Wir erarbeiten uns also im Laufe eines Promotionsprojekts eine fachliche Wissensbasis aus multiplen Wissensressourcen in verschiedenen Modalitäten (Fachartikel, Fachgespräche, Notizen mit eigenen Überlegungen, Einträge in Literaturverwaltungs-Tools, Mindmaps, Video-Tutorials etc.).
So gesehen ist die Vorstellung einer Lesephase oder einer Phase des Einlesens im Promotionsprojekt zu kurz gedacht. Schmohl (2020) spricht passender von einem Prozess der „wissenschaftlichen Informationserschließung“, bei dem es nicht nur um Wissensaneignung geht, sondern der von weiteren Verarbeitungsschritten wie Gruppieren und Vernetzen von Themen geprägt ist. Knorr bezeichnet diese Phase in ihrem Kaskadenmodell wissenschaftlichen Schreibens als „Findungsphase“ (Knorr 2021: 14f.), die „Lesen von Texten anderer“ ebenso wie das „epistemisch-heuristische Schreiben“ einschließt, d.h. das Schreiben, um neue Erkenntnisse zu finden (Knorr 2021: 15).
Von der Materialkrise zum Spätstarter-Problem
Wenn lineare Vorstellungen von Schreib- und Lesephasen zu stark dominieren, können sie im schlimmsten Fall das Schreiben behindern. Es lassen sich zwei Probleme beobachten: die „Materialkrise“ (Fiedler/Hebecker 2012: 259) und oft damit zusammenhängend das „Spätstarter- Problem“ (Keseling 1997: 201).
Die „Materialkrise (Fiedler/Hebecker 2006: 259) bezeichnet das Problem, dass Schreiber und Schreiberinnen zu viel Material gesammelt haben und in dieser Informationsflut untergehen. Dies kann sowohl die Ausarbeitung einer eigenen Fragestellung beeinträchtigen (ebd.) als auch den Einstieg in den Schreibprozess blockieren. Letzteres vermochte eine Befragung zu Schreibproblemen unter 200 Studierenden aus verschiedenen Fächern der Universität Freiburg i. Br. zu zeigen: So berichteten 58 Prozent der Studierenden davon, dass sie beim Schreiben darunter leiden, zu viel Material gesammelt zu haben, das sie nicht mehr strukturieren können (Dittmann et al. 2003: 177).
Vom „Spätstarter-Problem“ sind Schreiber und Schreiberinnen betroffen, die davon ausgehen, dass sie alle relevante Literatur zu ihrem Thema gelesen haben müssen, bevor sie mit dem Schreiben beginnen können. Sie haben sich dann zwar viel angelesen, aber sitzen trotzdem vor dem berüchtigten leeren Blatt (vgl. Kruse 2007). In der oben genannten Befragung von Studierenden wurde von 54 Prozent der befragten Studierenden berichtet, dass sie aufgrund einer zu langen Lesephase unter Problemen beim Einstieg in den Schreibprozess leiden (Dittmann et al. 2003: 177). Das umgekehrte Problem hingegen, d.h. ein zu früher Schreibstart und damit verbunden Probleme bei der inhaltlichen Übersicht, weil man zu wenig gelesen hatte, wurde nur von rund 15 Prozent der Befragten genannt (ebd.).
Die Materialkrise und das Spätstarter-Problem sind nicht nur die Folgen einer zu langen Lesephase, sondern deuten auch darauf hin, dass die Leseprozesse nicht von produktiven Strategien der Informationsverarbeitung begleitet wurden.
Das Promotionsprojekt: Wieso wir in der Lesephase viel schreiben sollten
Texte produktiv, d.h. schreibend und visualisierend zu verarbeiten, hilft Gelesenes besser zu verstehen und daraus neue Erkenntnisse zu generieren. Dies ist aus der Leseforschung schon seit langem bekannt. So zeigen verschiedene Studien, dass sogenannte Lesestrategien das Textverstehen, die Textverarbeitung und den Erkenntnisgewinn positiv beeinflussen (vgl. die Metastudie von Graham et al. 2018). Zu diesen Strategien gehören u.a. produktive Verfahren der Textverarbeitung wie das visuelle Strukturieren von Inhalten in Mindmaps und semantischen Netzen, Fragen an den Text zu stellen und während oder nach der Lektüre schriftlich zu beantworten sowie das Zusammenfassen der wichtigsten Inhalte (vgl. etwa NICHD 2000).
Die wissenschaftliche Informationserschließung geht über das Textverständnis von Einzeltexten hinaus und stellt daher komplexere Anforderungen (vgl. Philipp 2020). Wir müssen eine große Anzahl verschiedener Studien und Texte überblicken und Forschungslücken aufdecken, Informationen zu verschiedenen Teilaspekten bündeln, Argumente kontrastieren, verschiedene Inhalte synthetisieren. Hinzu kommt, dass wir später noch in der Lage sein sollten, einzelne Informationen treffsicher einer Quelle zuordnen zu können. Die vielleicht größte Herausforderung stellt wahrscheinlich die Dokumentation all dieser Denk- und Syntheseleistungen dar, so dass wir im Forschungs- und Schreibprozess auch nach einem oder zwei Jahren effizient darauf zurückgreifen können.
Je konsequenter produktive Verfahren in den Prozess der Informationserschließung integriert werden, desto besser können sie den späteren Schreibprozess unterstützen und entlasten. Dies gilt ganz besonders für solche Verfahren, die eine Übersicht über die Informationsfülle schaffen, für eine saubere Dokumentation der Materialien sorgen, Inhalte gliedern sowie inhaltliche Bezüge sichtbar machen.
Konkret könnte das so aussehen: Wir lesen einen Text, machen dazu Notizen, die wir zusammen mit den bibliographischen Angaben und sinnvollen Schlagworten in einer Literaturverwaltungssoftware erfassen. Die gelesenen Inhalte visualisieren wir anschließend verdichtet in einer Mindmap. Diese kann wiederum durch Inhalte weiterer Lektüre angereichert und schrittweise zu einer eigenen Strukturierung eines Themenkomplexes ausgebaut werden.
Im Schreibprozess wiederum kann diese Mindmap zum Beispiel als Grundlage für ein Theoriekapitel der Arbeit dienen. Die zugehörigen Studien können wir dank der Schlagworte wieder aus der Literaturverwaltungssoftware aufrufen und daraus weitere Details in den Text einbauen.1
Mit solchen Strategien wird der Schreibprozess entlastet, da wichtige Gliederungs- und Synthese-Arbeiten schon im Prozess der Informationserschließung geleistet wurden.
Wieso wir beim Promotionsprojekt lesen sollten, um besser zu schreiben
Das Lesen wissenschaftlicher Texte kann über die Funktion der Informationserschließung hinaus eine Brücke zum eigenen Schreiben bilden, da diese Texte als Modelle für formale und funktionale Anforderungen der Textsorte der wissenschaftlichen Arbeit fungieren können. Diesen Ansatz vertreten Genre-pädagogische Zugänge, die sich dem Prinzip reading to write verschrieben haben (vgl. für das wissenschaftliche Schreiben Swales 2004). Ziel des reading to write-Ansatzes ist es, Wissen über Textsorten-Normen aufzubauen. Dabei werden Modelltexte anhand einer strukturierten Lektüre auf charakteristische Eigenschaften der Textsorte hin erforscht. Diese Erkenntnisse können für die eigene Textproduktion fruchtbar gemacht werden.
Dieses Prinzip lässt sich in abgespeckter Form auch hervorragend auf das Promotionsprojekt anwenden. Statt beispielsweise Studien nur in Bezug auf inhaltliche Aspekte zu rezipieren, können wir auch ein Augenmerk auf formale und funktionale Aspekte legen: Wie ist die Einleitung gegliedert? Was gehört in den Methodenteil? Mit welchen Formulierungsmustern werden Fragestellungen versprachlicht oder Ergebnisse berichtet? Meist ist es auf der Stufe Promotion nicht mehr nötig, wissenschaftliche Texte vollständig zu modellieren, die Grundlagen wurden ja meist schon im Studium erworben. Wir können uns aber Texte, die uns besonders verständlich und anschaulich erscheinen, als Modelltexte merken. Dazu kennzeichnen wir sie mittels eines sinnvollen Schlagworts in unserem Literaturverwaltungs-Tool und können sie so bei Unsicherheiten im Schreibprozess zur Inspiration wieder hervorholen – ein kleiner Aufwand mit großer Wirkung.
Wieso wir während des Schreibens auch lesen sollten
Die Verschränkung von Lesen und Schreiben zeigt sich auch in der sogenannten Schreibphase, in der wir viel mehr lesen, als es der Begriff vermuten lässt. Schreibprozesse wie das Promotionsprojekt werden von verschiedenartigen Leseprozessen begleitet, die je andere, aber wichtige Funktionen ausüben, wie in der Schreibforschung schon verschiedentlich herausgearbeitet wurde (vgl. etwa Hayes 1996).
Für das wissenschaftliche Schreiben ist davon zum einen das Lesen von Quellen, Texten und Materialien relevant, die während des Schreibens (nochmals) konsultiert werden. Im Schreibprozess müssen wir Ideen und Inhalte in eine strukturierte Abfolge bringen, es kann daher vorkommen, dass uns inhaltliche Lücken erst dann auffallen. Oder wir entdecken forschend und schreibend neue Aspekte eines Themas, denen wir nachgehen möchten. Es ist also meist gerechtfertigt, im Schreibprozess nochmals zur Fachliteratur zurückzukehren. Weder bedeutet es, dass wir uns schlecht eingelesen haben, noch stört es denn Schreibprozess nachhaltig, wenn wir uns die fehlenden Informationen effizient erschließen. Es ist vielmehr ein Zeichen dafür, dass wir inhaltlich ein Stück vorangekommen sind.
Zum anderen ist es immer wieder erstaunlich, wie viel Zeit wir beim Schreiben auf das Lesen des eigenen Textes verwenden. Damit ist nicht das Überarbeiten des ersten Textentwurfs gemeint, sondern das Lesen des geschriebenen Textes während des Schreibens.
Das Wiederlesen des eigenen Textes dient oft dazu, den eigenen Text nochmals inhaltlich zu überprüfen und kohärente Übergänge zum neu zu schreibenden Textblock zu schaffen (Wengelin et al. 2009). Damit können wir einen stockenden Schreibprozess wieder in Gang bringen. Allerdings sollte sich das Wiederlesen des eigenen Textes wirklich auf Aspekte des Inhalts und der Strukturierung beschränken und nicht in ein übermäßiges Revidieren von sprachlichen Feinheiten ausufern, was auf eine Fluchtstrategie aus einer Schreibblockade hindeuten könnte. Das Überarbeiten sprachlicher und grammatischer Feinheiten sollte dem letzten Revisionsdurchgang vorbehalten bleiben.
Das Promotionsprojekt: Entspannter lesen, verarbeiten, schreiben
Dieser Beitrag wollte anregen, sich von verengten Vorstellungen zu Schreib- und Lesephasen unter anderem im Promotionsprojekt zu befreien, die im schlimmsten Fall den Beginn des Schreibprozesses blockieren oder zumindest negative Gefühle auslösen können, wenn unsere Prozesse vermeintlich chaotischer verlaufen. Er sollte aufzeigen, wie ein realistisches Verhältnis zu den verschiedenen Phasen eines Promotionsprojekts zur Erkenntnis führen kann, dass viel Entlastungspotential in der engen Verzahnung von Lesen, produktiver Verarbeitung von Inhalten und Schreiben stecken kann.
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1 Eine gute Übersicht über verschiedene weitere Strategien beim wissenschaftlichen Lesen hat das Schreibzentrum der Goethe-Universität Frankfurt a.M. zusammengestellt: https://www.starkerstart.uni-frankfurt.de/86664377/A13__Lesestrategien.pdf (Zugang am 1.2.2022).
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Die Autorin
Mirjam Weder, Dr. phil. ist Dozentin für germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Basel. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre bilden die Schreibforschung, die computerbasierte Analyse von Musterhaftigkeit und Konstruktionen im Rahmen der Genre-Analyse sowie das Verhältnis von Norm-Konvention-Variation im Sprachgebrauch. Das wissenschaftliche Schreiben ist Dreh- und Angelpunkt ihrer verschiedenen Tätigkeiten: aus der Perspektive der Dozentin interessiert sie dessen effiziente Vermittlung, aus der Perspektive der Forscherin dessen Untersuchung, insbesondere Aspekte der Musterhaftigkeit, der Schreibprozesse sowie des Erwerbs, und last but not least ist es für sie selbst als Autorin von Fachbüchern und Fachartikeln ein wichtiges Instrument, um Forschungserkenntnisse zu präsentieren. Diese drei Perspektiven sind in den vorliegenden Beitrag eingeflossen.
Dieser Artikel ist erschienen in
Exposé – Zeitschrift für wissenschaftliches Schreiben und Publizieren
Heft 1-2022: Schreiben in der Wissenschaft
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