Verschleierte Massenarbeitslosigkeit

Krane über einer Baustelle

Verwirrung um Arbeitslosigkeit und ihre Statistik

Heinz-J. Bontrup

GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, Heft 1-2021, S. 71-83

 

Zusammenfassung
Ein hoher Beschäftigungsstand, so steht es im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967, ist eine entscheidende volkswirtschaftliche Zielgröße. Es muss alles wirtschaftspolitisch versucht werden, um dies zu erreichen. Die Realität ist aber eine völlig andere. Seit Jahrzehnten liegt eine chronische Massenarbeitslosigkeit vor, deren statistische Erfassung verwirrend und für die Öffentlichkeit nicht transparent ist und zudem noch in ihrer Höhe als tatsächlich bestehende Arbeitsplatzlücke zu gering ausgewiesen wird.

 

Einleitung

Arbeitslosigkeit begleitet den Kapitalismus von Anfang an.1 Es gab immer nur kurze Phasen von Vollbeschäftigung. Während der Weimarer Zeit war die Arbeitslosigkeit auf über 6 Millionen (Januar 1932) angestiegen. Nicht zuletzt war dies der Grund für ihren Untergang und die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933. Die verheerenden Ergebnisse sind hinlänglich bekannt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg belief sich zunächst bis zur ersten Hälfte der 1950er Jahre die absolute Zahl der Arbeitslosen noch auf über eine Million. Dann kam es immer mehr zu einer Vollbeschäftigung. Mit der Wirtschaftskrise von 1966/67 kehrte allerdings das „Gespenst der Arbeitslosigkeit“ zurück und seit der schweren Weltwirtschaftskrise von 1974/75 kam es zu einer Massenarbeitslosigkeit, die mit der Wiedervereinigung weiter stark zulegte. Der Höhepunkt, nur bei den registrierten Arbeitslosen, wurde dann mit fast 5 Millionen im Jahr 2005 erreicht.

Arbeitslosigkeit ist für jeden abhängig Beschäftigten eine Katastrophe. Arbeitslosigkeit entwürdigt Menschen. Sie führt zu „Scham- und Schmachgefühlen“, wie die französische Wirtschaftsjournalistin Viviane Forrester in ihrem Buch „Der Terror der Ökonomie“ beschreibt. „Die Scham sollte an der Börse gehandelt werden: Sie ist ein wichtiger Grundstoff des Profits.“2 Keine Arbeit zu haben, macht krank.3 „Mehr noch als berufliche Belastungen führt der Verlust des Arbeitsplatzes zu psychischen Erkrankungen. Arbeitslose sind drei- bis viermal so häufig psychisch krank wie Erwerbstätige.“4 Der Soziologe und Sozialphilosoph Oskar Negt schreibt: „Es ist eben ein Skandal, (…) für Millionen von Menschen das zivilisatorische Minimum für eine menschliche Existenzweise nicht zu sichern: nämlich einen Arbeitsplatz, einen konkreten Ort, wo die Menschen ihre gesellschaftlich gebildeten Arbeitsvermögen anwenden können, um von bezahlter Leistung zu leben. (…) Wenn ich in diesem Zusammenhang von Gewalt spreche, so meine ich das buchstäblich: Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt, ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit der davon betroffenen Menschen. Sie ist Raub und Enteignung der Fähigkeiten und Eigenschaften, die innerhalb der Familie, der Schule, der Lehre in der Regel in einem mühsamen und aufwendigen Bildungsprozess erworben worden sind und jetzt, von ihren gesellschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten abgeschnitten, in Gefahr sind zu verrotten und schwere Persönlichkeitsstörungen hervorzurufen.“5

Bei Arbeitslosigkeit kommt es in der Tat zu einem plötzlichen Wertverlust der Arbeitskraft und damit zu einem Verlust der eigenen Reproduktionsmöglichkeit, die sich selbst noch im Alter durch eine verminderte Rentenzahlung bemerkbar macht. Staatliche Lohnersatzleistungen in Form von Arbeitslosengeld I und II sind hier keine vollständige Kompensation und haben zudem einen Alimentierungscharakter, der den Arbeitslosen politisch angreifbar macht. Neoklassische Ökonomen sprechen von einer „freiwilligen Arbeitslosigkeit“ wegen zu hoher Lohn- und Arbeitsplatzansprüche6 und Politiker deuten dies als „Faulheit“.7 Selbst abhängig Beschäftigte, die potenziell jederzeit von Arbeitslosigkeit betroffen sind, reihen sich hier in ein Arbeitslosen- Bashing und einer Individualisierung des Problems ein. Keynesianer interpretieren Arbeitslosigkeit dagegen als „systemisch und unfreiwillig“ und Marxisten erblicken in Arbeitslosigkeit eine kapitalistische „Reservearmee“ zur Unterdrückung und einer vertieften Ausbeutung.

In dem folgenden Beitrag soll es aber nicht um komplexe, divergierende arbeitsmarkttheoretische und/oder -politische Betrachtungen gehen,8 sondern „nur“ um die statistische Erfassung von Arbeitslosigkeit und welche gesamtwirtschaftlichen Kosten sie verursacht. Dies ist deshalb wichtig und relevant, weil nur der richtige Ausweis der absoluten und relativen Arbeitslosigkeit das tatsächliche Beschäftigungsrisiko in einer Gesellschaft aufzeigt. Erfüllen hier die vorliegenden amtlichen Daten und Veröffentlichungen diesen wichtigen Anspruch? Und wie wird unsere Volkswirtschaft mit fiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit belastet, die beim Vorliegen von Vollbeschäftigung nicht entstehen würden?

Erfassung von Arbeitslosigkeit – Grundsätzliches

Die Erfassung der Arbeitslosigkeit obliegt der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg auf Basis der Regelungen des Sozialgesetzbuches (SGB). Die statistische Erhebung und Veröffentlichung erfolgen dabei monatlich. „Die Arbeitslosenstatistik wird aus den Geschäftsdaten der Arbeitsagenturen und der Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende gewonnen. Sie ist eine Sekundärstatistik in Form einer Vollerhebung. Basis sind die Daten der Personen, die sich bei den regionalen Arbeitsagenturen und den Trägern der Grundsicherung für Arbeitssuchende gemeldet haben“ (Bundesagentur für Arbeit, Methodenbericht Mai 2009, S. 14).

Man sollte hier erwarten können, dass der amtliche Ausweis über Arbeitslosigkeit auch die Wahrheit und damit die tatsächliche Betroffenheit zum Ausdruck bringt. Auch müssen Definitionen möglichst nicht verändert werden oder zumindest vergleichbar sein, sonst lassen sich zeitliche Entwicklungen der Arbeitslosigkeit nur schwer interpretieren. Dies ist nicht nur für den einzelnen Arbeitslosen wichtig, sondern auch für eine gesamtwirtschaftliche Analyse. Diese Erwartung wird jedoch leider nicht erfüllt. Zu sehr belastet offensichtlich die marktwirtschaftlich-kapitalistisch immanent auftretende Arbeitslosigkeit die herrschende Politik, die letztlich für einen exakten Ausweis in Form von gesetzlichen Vorgaben für die BA verantwortlich ist. „Für die Fragen nach der Wahrheit und der Aussagekraft der Arbeitslosenstatistik“, schreibt die BA, „ist ein Zitat von Hans Wolfgang Brachinger9 hilfreich: Es geht nicht darum, ob ein konkretes statistisches Modell im Vergleich mit einem bestimmten Realitätsausschnitt mehr oder weniger wahr oder falsch ist, sondern darum, inwieweit es sich für die Behandlung eines vorliegenden Informationsproblems als fruchtbar und nützlich erweist. Um festzustellen, ob ein konkretes statistisches Modell fruchtbar und nützlich ist, hat man die einzelnen Schritte des Konstruktionsprozesses, der zu diesem Modell führt, einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Für jeden dieser Schritte ist auf der Grundlage eines pragmatischen Rationalitätsbegriffs zu prüfen, inwieweit die dabei getroffene Spezifizierung gegenüber alternativen Spezifizierungen vernünftig begründet ist“ (Bundesagentur für Arbeit, Methodenbericht Mai 2009, S. 14). Und genau hier scheitert die BA an ihren eigenen Anforderungen, wie im Verlauf des Beitrages aufgezeigt wird.

Unterschiedliche Definitionen von Arbeitslosigkeit

Zunächst ist hier einmal auf unterschiedliche Definitionen von Arbeitslosigkeit aufmerksam zu machen, die wenig zur Aufklärung und Transparenz beitragen, dafür aber für Verwirrung sorgen. So gelten nach § 16 Sozialgesetzbuch (SGB III) Personen nur dann als arbeitslos, wenn sie

‒ vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehen,
‒ eine versicherungspflichtige Beschäftigung suchen und
‒ dabei den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung stehen
‒ und sich bei der Agentur arbeitslos gemeldet haben.

1 Vgl. Niess, Frank, Geschichte der Arbeitslosigkeit, Köln 1979, Friedrich, Horst/Wiedemeyer, Michael, Arbeitslosigkeit – ein Dauerproblem, Dimensionen, Ursachen, Strategien, Opladen 1998
2 Forrester, V., Der Terror der Ökonomie, München 1998, S. 15
3 Vgl. Bontrup, H.-J., Krankmachende Ursachen in der Ökonomie, in: Sozialpsychiatrische Informationen, Heft 4/2011, S. 13ff.
4 Koch, K.,Viel Arbeit und wenig Einfluss auf Arbeitsprozesse machen krank, in: Psychosoziale Umschau, Heft 3/2010, S. 37
5 Negt, Oskar, Rot-Rot-Grün im Trialog: Schaffen wir linke Mehrheiten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 12/2016, S. 84f.
6 Vgl. zur Kontroverse über die Rolle der Arbeitsmärkte bei der Erklärung der Arbeitslosigkeit: Dichmann, W./Hickel, R., Zur Deregulierung des Arbeitsmarktes – Pro und Contra, in: Beiträge zur Gesellschafts- und Bildungspolitik (Institut der deutschen Wirtschaft) Nr. 148, Köln 1989
7 „Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft“, so z.B. der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Damit meinte er die arbeitslosen „Faulenzer“, „Drückeberger“, „Sozialschmarotzer“ und „Scheinarbeitslosen“.
8 Vgl. dazu ausführlich, Bontrup, H.-J., Marquardt, R.-M., Volkswirtschaftslehre aus orthodoxer und heterodoxer Sicht, München, Berlin 2021
9 Brachinger, Hans Wolfgang, Statistik zwischen Lüge und Wahrheit, in: Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv 1/2007.

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