Professionalisierung angehender Erzieher_innen für eine differenz- und ungleichheitssensible Praxis

Kinder in Gummistiefeln

Von sozialer Exklusivität und „sozialem Sprengstoff“ – Perspektiven von Lehr- und Leitungskräften auf Differenz und Ungleichheit in der Ausbildung von Erzieher_innen

Melanie Kuhn, Sandra Landhäußer

Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, Heft 1-2021, S. 22-35

 

Zusammenfassung
Angehende Erzieher_innen sollen an Fachschulen für Sozialpädagogik für einen professionellen Umgang mit Differenz in ihrer späteren Berufspraxis ausgebildet werden. Diese Professionalisierung an Fachschulen findet aber auch in institutionellen Kontexten statt, die selbst von gesellschaftlichen Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen geprägt sind. Gezeigt wird in einer kontrastierenden Analyse zweier Expert_inneninterviews mit einer Lehr- und einer Leitungskraft von Fachschulen, dass die wahrgenommene soziale Positioniertheit der eigenen Schüler_innen präformiert, wie die breiten curricularen Vorgaben zur differenzbezogenen Professionalisierung konkretisiert werden und welche inhaltlichen Schwerpunkte die Schulen setzen.

Schlagwörter: Erzieher_innenausbildung, Fachschule für Sozialpädagogik, Differenz, Ungleichheit, Expert_inneninterviews

 

On social exclusivity and “social explosives” – Views about difference and inequality in early childhood teacher education

Abstract
At (non-academic) colleges of social pedagogy prospective early childhood teachers should be qualified for dealing competently with heterogeneity in the field of early childhood education. This professionalisation also takes place in institutional contexts of the colleges that are themselves characterised by social differences and inequalities. A contrasting analysis is provided on the base of two expert interviews with teaching and management staff working at colleges of social pedagogy. It is shown that the perceived social positioning of their own students has a far-reaching influence: firstly, on how the broad curricular guidelines for difference-related professionalisation are implemented and secondly on what contents the schools prioritise.

Keywords: early childhood teacher education, colleges of social pedagogy, difference, inequality, expert interview

 

1 Einleitung

An institutionelle frühkindliche Bildung knüpft sich die Erwartung, einen Beitrag zum Abbau von Bildungsungleichheiten zu leisten und damit auch auf lange Sicht gerechtere gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten zu schaffen. Gestiegen sind damit zugleich die Ansprüche an das pädagogische Handeln von Fachkräften, denen im (fach-)öffentlichen Diskurs weitreichende Kompetenzdefizite attestiert und die bisweilen diffamierend für eine noch unzureichende Gewährleistung von Chancengleichheit durch frühkindliche Bildung responsibilisiert werden (kritisch: Thole 2008; Betz 2013). Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass Studien dazu, wie angehende Erzieher_innen in ihrer fachschulischen Erstausbildung in differenzbezogener Hinsicht professionalisiert werden, bislang kaum vorliegen. Während Dokumentenanalysen der Curricula von Fachschulen für Sozialpädagogik aufzeigen, inwiefern und auf welche Weisen Fragen von Differenz und Ungleichheit im fachschulischen Unterricht der Erzieher_innenausbildung zum Thema werden sollen (Eggers 2015; Haude/Volk 2015), gibt es noch keine empirischen Erkenntnisse dazu, wie Fachschulen für Sozialpädagogik diese curricularen Vorgaben zu einer differenzbezogenen Professionalisierung ihrer Schüler_innen auf Ebene der Einzelinstitution adaptieren und konkretisieren. Vor dem Hintergrund des „doppelten pädagogischen Bezugs“ sozialpädagogischer Ausbildungen (Küls 2010, S. 96; Eggers 2015, S. 99), bilden Fachschulen nicht nur für die pädagogische Arbeit mit den späteren Adressat_innen der frühpädagogischen Praxis aus. Sie sind zugleich ein pädagogischer Lern- und Bildungsort für die Fachschüler_innen selbst. Insofern findet die Professionalisierung angehender Erzieher_innen für Fragen von Differenz und Ungleichheit immer auch in einem institutionellen fachschulischen Rahmen statt, der selbst wiederum nicht jenseits gesellschaftlicher Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse angesiedelt ist und in denen die fachschulischen Akteur_innen, die Lehrkräfte wie die Schüler_innen, je spezifisch platziert sind.

Ausgehend von der oben genannten Literatur, die auf den ‚doppelten pädagogischen Bezug‘ als Strukturmerkmal der fachschulischen Erzieher_innenausbildung verweist, wendet der vorliegende Beitrag diese Annahme empirisch und stellt folgende Fragen: Fokussiert wird aus Sicht von Lehrkräften, wie angehende Erzieher_innen für differenz- und ungleichheitssensibles Handeln in ihrer späteren Praxis professionalisiert werden, welche Rolle die wahrgenommene differenzbezogene Positioniertheit der Schüler_innen für den Bildungsort Fachschule spielt und welche Bedeutung Lehrkräfte dieser für die eigene Unterrichtspraxis zuweisen. In einer kontrastierenden Analyse zweier Expert_inneninterviews mit einer Lehr- und einer Leitungskraft von Fachschulen für Sozialpädagogik wird analysiert, wie beide Ebenen – die differenzbezogenen Professionalisierungsziele für die spätere Praxis und die wahrgenommenen Differenzverhältnisse innerhalb der eigenen Schüler_innenschaft – im Zusammenhang stehen: Die von den Befragten wahrgenommene Positioniertheit der Fachschüler_innen im sozialen Raum – als bildungsbürgerlich sozial privilegiert oder migrantisch marginalisiert – präformiert, welche Schwerpunkte die jeweilige Fachschule in der differenzbezogenen Ausbildung der angehenden Erzieher_ innen setzt (Kap. 3). Hierfür werden vorab die vorliegenden empirischen Erkenntnisse zur differenzbezogenen Professionalisierung an Fachschulen für Sozialpädagogik skizziert (Kap. 1) und die gegenstandstheoretischen und methodologischen Vorannahmen des Beitrags expliziert (Kap. 2). Abschließend rekapitulieren wir die Bedeutung der generierten Erkenntnisse für eine weiterführende Professionalisierungsforschung an Fachschulen (Kap. 4).

2 Differenz und Ungleichheit in der fachschulischen Ausbildung von Erzieher_innen – ein Desiderat empirischer Forschung

Fragen von Differenz, Heterogenität und Ungleichheit im Bildungssystem stellen vor allem in der Schulpädagogik (Trautmann/Wischer 2019), mittlerweile aber auch in der frühkindlichen Bildung (Gramelt 2020; Selzer/Ruppin 2017) ein aktuell prominentes und programmatisch wie empirisch viel bearbeitetes Feld dar. Noch vergleichsweise wenig Relevanz scheint der Heterogenität unter Auszubildenden im Kontext der beruflichen Bildung zugeschrieben zu werden (vgl. Gillen/Koschmann 2013; Buchmann 2020). Gleichwohl sind auch dort Impulse hin zu einer verstärkten Betrachtung des Themas gesetzt (vgl. Heinrichs/Reinke 2019). Mit dieser vergleichsweise geringen Berücksichtigung differenz- und ungleichheitsbezogener Inhalte in der beruflichen Bildung insgesamt geht einher, dass auch zur differenzbezogenen Qualifizierung von Erzieher_innen an Fachschulen bislang noch kaum Studien vorliegen (vgl. Cloos 2019, S. 57; Friederich/Schelle 2017).1 Systematisieren lassen sich diese in Befragungen von Lehr- und Leitungskräften von Fachschulen (1), in Dokumentenanalysen von Curricula (2) und von Lehrmaterialien der fachschulischen Ausbildung (3).

Ältere Befragungen von Lehr- und Leitungskräften an Fachschulen weisen darauf hin, dass Fragen von Differenz und insbesondere von Inklusion nach Einschätzung von Leitungskräften bislang insgesamt wenig in der Ausbildung von Erzieher_innen berücksichtigt würden (Deppe 2011) und kommen zum Ergebnis, dass Lehrkräfte die Kompetenz ihrer Absolvent_innen in Bezug auf inklusives Handeln als vergleichsweise gering bewerten (Kleeberger/Stadler 2011). Angesichts der substanziellen differenz- und insbesondere inklusionsbezogenen Curricularevision Anfang der 2010er Jahre wäre empirisch zu klären, inwiefern sich diese Einschätzungen zur Etablierung dieser Themen und zu den Kompetenzen der Absolvent_innen mittlerweile gewandelt haben.

Über diese differenzbezogenen curricularen Entwicklungen geben Dokumentenanalysen fachschulischer Lehrpläne Auskunft: Eine historisierend angelegte Analyse kommt für die Vorgängerversionen der aktuellen Curricula noch zum Schluss, dass dort Konzepte von Diversität noch kaum systematisch und differenziert aufgegriffen werden (Haude/Volk 2015, S. 128). Eggers (2015, S. 98) konstatiert in ihrer Analyse des bundesweiten Kompetenzorientierten Qualifikationsprofils sowie des Länderübergreifenden Lehrplans (2012) für die fachschulische Erzieher_innenausbildung, dass der curricularen Verankerung diversitäts- und inklusionsorientierter Perspektiven in die länderspezifischen Lehrpläne mittlerweile aber der Weg geebnet sei, was König u.a. (2018) in ihrer deskriptiven Analyse aktuell gültiger Curricula der fachschulischen Erzieher_innenausbildung der Bundesländer bestätigen. Eine eigene dezidiert differenzbezogene Analyse der Curricula aller 16 Bundesländer (Landhäußer/Kuhn i.E.) hat bei einer nunmehr breiten Differenzund Inklusionsorientierung der überwiegenden Mehrheit der Lehrpläne darüber hinaus erstens aufgezeigt, dass diese immer noch überwiegend von einem positivistischen Verständnis von Differenz geprägt sind. Zweitens kommt Differenz in erster Linie bezogen auf die späteren Adressat_innen der Fachschüler_innen, die Kinder, Jugendlichen und Familien, in den Blick während die sozialen Positioniertheiten der Schüler_innen kaum thematisiert werden und die Fachschulen so implizit als differenzfreie Institutionen erscheinen. Drittens problematisieren lediglich die Curricula von sieben Bundesländern explizit Armut und/oder soziale Ungleichheit als potenzielle Beeinträchtigung von Bildungs- und Lebenschancen der Adressat_innen. In anderen Bundesländern wird ‘soziale Herkunft’ eher bezogen auf ihre didaktische Nutzbarmachung hin affirmiert, wenn sie etwa als Ressource für die Konzeption pädagogischer Angebote ‘genutzt’ werden soll. Zu vergleichbaren Befunden kommen Prigge u.a. (2019, S. 234) in ihrer armutsinteressierten Curriculaanalyse von 14 Lehrplänen. Sie konstatieren eine insgesamt nur marginale und darüber hinaus vage und wenig konkrete Thematisierung von Armut und sozialer Ungleichheit (ebd.).

Auf eine solche ungleichheitsbezogene Leerstelle weisen auch Dokumentenanalysen von Lehrbüchern für Fachschulen hin. Für Schulbücher in der Erzieher_innenausbildung (Thole/Milbradt/Simon 2017) zeigt sich, was für Materialien in der allgemeinen Lehrer_innenbildung (Karakaşoğlu u.a. 2017) ebenfalls gilt: Soziale Ungleichheitsverhältnisse werden dort selten systematisch berücksichtigt und insofern entkontextualisiert, als ihre gesellschaftstheoretischen und sozialstrukturellen Zusammenhänge kaum Berücksichtigung finden. So lässt sich mit Blick auf die Dokumentenanalysen von Curricula und Lehrmaterialien zusammenfassen, dass sich zwar eine mittlerweile deutlich gesteigerte Differenzorientierung der fachschulischen Erzieher_innenausbildung zeigt, eine Thematisierung von Differenzen in ihrer Bedeutung für Diskriminierungsprozesse, Benachteiligungsstrukturen und Ungleichheitsverhältnisse aber nicht durchgängig gegeben ist.

Bei dieser insgesamt überschaubaren empirischen Befundlage lässt sich festhalten, dass erstens Analysen der konkreten Ausgestaltung der differenzbezogenen Professionalisierung – und damit auch der spezifischen Umsetzung aktueller curricularer Vorgaben – an einzelnen Fachschulen bislang noch nicht vorliegen. Zweitens fällt auf, dass bislang publizierte Studien Differenz und Ungleichheit in erster Linie als Ausbildungsinhalt der fachschulischen Ausbildung untersuchen. Empirisch noch nicht bearbeitet ist hingegen, welche Bedeutung die wahrgenommene Positioniertheit der eigenen Schüler_innenschaft in gesellschaftlichen Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen für den fachschulischen Unterricht im Allgemeinen und deren differenzbezogene Professionalisierung im Besonderen hat. Einen ersten Beitrag zur Bearbeitung beider Desiderate leistet der vorliegende Aufsatz.

1 Die vorliegenden differenzinteressierten profession(alisierung)stheoretischen Studien richten sich auf das Handeln von Fachkräften im Kindergarten oder auf Wissen oder Orientierungsmuster von Fachkräften, nehmen aber nicht die fachschulische Professionalisierung in den Blick (vgl. zusammenfassend: Cloos 2015, 2019; Friederich/Schelle 2017).

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Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research 1-2021: Von sozialer Exklusivität und „sozialem Sprengstoff“ – Perspektiven von Lehr- und Leitungskräften auf Differenz und Ungleichheit in der Ausbildung von Erzieher_innenSie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist in dem Heft 1-2021 der Zeitschrift Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research erschienen.

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