Geblättert: “Eine theoretische Orientierung für die Soziale Arbeit in Zeiten des Klimawandels” von Marcel Schmidt

Person im Wald

Eine theoretische Orientierung für die Soziale Arbeit in Zeiten des Klimawandels. Von der ökosozialen zur sozial-ökologischen Transformation

von Marcel Schmidt

 

Über das Buch

Während Begriffe wie Klimawandel und sozial-ökologische Transformation zum festen Bestandteil der fachlichen wie alltäglichen Kommunikation geworden sind, ist es weder der Disziplin noch der Profession Sozialer Arbeit bislang gelungen, sich fachlich und öffentlichkeitswirksam an dieser Diskussion zu beteiligen. Der Autor geht auf theoretischer Ebene der Frage nach, wie sich daran etwas ändern ließe und womit sich Soziale Arbeit in der Diskussion positionieren könnte.

Leseprobe: S. 84-89

 

5) Anthropozän als Kulturrevolution sozialer Nachhaltigkeit – ein transdisziplinäres Projekt

Wenn Winkler die Theorieentwicklung Sozialer Arbeit trotz aller Divergenzen „als Zukunftswissenschaft“ (Winkler 2018: 50) herausstellt, da es der Profession nur theoriegeleitet gelingen kann, „die Gegenwart des Subjekts so [zu] strukturieren, dass in ihr eine offene Zukunft für dieses entsteht“ (Winkler 1988: 275), so lässt sich, wie mit Wulf Winklers Gedanke fortgeführt werden kann, um so größer der Zeitraum der antizipierten Zukunft wird, nur umso ungenauer angeben, „was zu einer zukunftsfähigen Bildung gehört“ (Wulf 2020: 204). Dennoch besteht für Wulf „kein Zweifel darüber, dass Frieden, Umgang mit kultureller Diversität und Nachhaltigkeit zu den Bedingungen zukunftsfähiger Bildung in der globalen Moderne gehören“ (ebd.). Nicht nur entlang des ökonomischen Zusammenhangs aller Regionen der Erde, sondern vor allem auch entlang des ökologischen Zusammenhangs aller Regionen der Erde kann Bildung nur ökumenisch, d.h. die ganze Erde umfassend begriffen werden. Für eine gemeinwesenorientierte pädagogisch-politische Bildung eines künftigen Erdzeitalters als Anthropozän sieht Wulf als Aufgabe für eine solche Subjektbildung an, weltweit „eine Kultur des Friedens, der kulturellen Vielfalt und der Nachhaltigkeit zu entwickeln“ (ebd.), worin sich zugleich Sünkers (Sünker 1989) Begriff der politischen Kulturrevolution weiter ausdifferenzieren lässt.

Eine Kultur des Friedens muss damit beginnen, „eine kritische Perspektive gegenüber der eigenen Gesellschaft, der ihr inhärenten Gewalt und ihrer Rolle im internationalen System“ zu entwickeln und neben der Fokussierung direkter kriegerischer Gewaltakte vor allem auch einen kritischen Blick für die westliche „‘organisierte Friedlosigkeit‘ (Senghaas) und ‚strukturelle Gewalt‘ (Galtung)“ zu gewinnen (Wulf 2020: 210f.). Dies ist umso schwieriger als dass diese beiden Formen indirekter Gewalt nicht nur seit knapp 12.000 Jahren in die leibliche Subjektivität des menschlichen Körpers eingewachsen ist (Theweleit 1982a, 1982b) und die Theweleit mit dem Begriff des „muskulären Körper-Ichs“ (Theweleit 1982b: 368) zum Ausdruck bringt, sondern auch im Städtebau sich fortgeschrieben haben und sich damit nicht nur muskulär, sondern auch infrastrukturell verhärtet haben. Dadurch kann es den AkteurInnen nur unter größtmöglichen theoriegeleiteten strategischem Aufwand ermöglicht werden, sich jenseits der innerlich und äußerlich inkorporierten „imperialen Lebensweise“ (Brand/Wissen 2017) völlig neu, nämlich friedlich zu verräumlichen. Zu einer solchen friedlichen Verräumlichung menschlicher Subjektivität entlang der Klimafrage gehört substanziell die politische Herstellung sozialer Gerechtigkeit und ihre begriffliche wie praktische Ausweitung auf räumlich-ökologische und kulturelle Aspekte. Das wird in aktuellen Diskursen als Klimaethik oder Klimagerechtigkeit zwar diskutiert (zum Überblick: Gesang 2011; Ekardt 2012; Christ/Gellrich/Ide 2012), diskutiert werden dort aber vor allem quantitative bzw. quantifizierbare Gerechtigkeitsaspekte der Klimafrage, während eine qualitativ-sozialräumliche bzw. urbane Perspektive sozialer Gerechtigkeit in der Klimafrage weitgehend ausbleibt (zur Kritik: Brunnengräber/Dietz 2016; zu einem Ansatz räumlicher sozialer Gerechtigkeit: Davoudi/Bell 2016; siehe auch in Teil C).

In der Kritik an den beiden Formen indirekter Gewalt kommt zwar zum Ausdruck, dass derweil Egozentrismus und Ethnozentrismus in den Blick sozialwissenschaftlicher Kritik geraten ist. In der vorrangig quantitativ-methodologisch und rationalistisch diskutierten Klimafrage hingegen kommt aber zugleich auch zum Ausdruck, dass der westliche Logozentrismus weiterhin imperial im Vormarsch ist und als weltweite Vernaturwissenschaftlichung der Klima- und Ökoproblematik sich dadurch – mehr oder weniger offensichtlich – gewaltförmig eine rationalistische Vereinheitlichung von Lebensweisen einfordert (zur Kritik an der rationalistischen Gewalt: Gronemeyer 2012, 2014; Feyerabend 1980, 2018; zur weiteren Ausformulierung dieses Gedankens: Schmidt 2021a [i.E.]), die den Klimawandel evidenzbasiert in den Griff zu bekommen verheißt. Die Ausbreitung und Hegemonie des westlichen Logozentrismus aber erschwert es zunehmend, an anderen Lebensweisen und Kulturen noch wahrzunehmen, was „nicht vernunftfähig und vernunftförmig“ ist, ohne dies mit der Wahrnehmung zugleich abzuwerten und/oder auszuschließen (Wulf 2020: 218).

Demgegenüber kann es für Wulf nur um eine mimetische Annäherung an das Fremde gehen, sei es nun menschlicher oder nicht-menschlicher Art: „In mimetischen Prozessen wird das Fremde in die Logik und Dynamik der eigenen imaginären Welt eingefügt“ und „in eine Repräsentation transformiert“, d.h. zu einer Figuration verbildlicht, „in der sich Fremdes und eigenes mischen, zu einer Figuration des Dazwischen“ (ebd.: 224). Über dieses Dazwischen muss eine Verständigung ihren Weg suchen, auf dem das Ergebnis „offen und abhängig vom Spiel der Phantasie und dem symbolischen und sozialen Kontext“ bleiben muss (ebd.: 225). Die Verständigung lässt sich dabei als substanzieller Bestandteil einer Bildung am Sozialen auffassen, der es entlang dialogischer Verständigungspraxen über das eigene und fremde Anderssein gelingen kann menschliche Subjektivität zu bilden, die nicht nur kulturelle, sondern auch individuelle Vielfalt subjektiver Vermögen und Fähigkeiten (an)erkennt. Ob und vor allem wie es gelingen kann, muss dabei konkret und vor Ort, d.h. im „sozialpädagogischen Ortshandeln“ (Winkler 1988: 278ff.) ermittelt werden, das solche Verständigungsräume nicht nur zu ermöglichen sich zur Aufgabe macht, sondern auch die Subjekte zur gemeinsamen Aufgabenbewältigung (etwa des Klimaproblems) befähigt.

Derlei fachliches Handeln Sozialer Arbeit tritt damit zugleich als Herstellen einer Kultur der Nachhaltigkeit in Erscheinung, die kulturelle Vielfalt beibehält und/oder wieder ermöglicht und vergrößert und damit grundlegend an einer Kultur des Friedens arbeitet. Nachhaltigkeit meint, wenn damit nicht nur ein quantitativer Begriff langfristigen Wirtschaftens mit knappen bzw. verknappten Gütern, sondern vor allem ein qualitativer Begriff verbunden wird, eine „regulative Idee“ zur „Herstellung sozialer Gerechtigkeit zwischen den Nationen, Kulturen und Weltregionen und den Generationen“, die „[n]eben der Förderung und Umgestaltung des Sozialen, der Ökologie und Ökonomie […] auch die globale Verantwortung und die politische Partizipation“ (Wulf 2020: 229) bedeutet. Um allerdings „Nachhaltigkeit als Zentrum einer Kultur des Friedens“ (ebd.: 232) zu positionieren, muss die politische Partizipation an den jeweiligen kulturellen Eigenheiten der AkteurInnen ausgerichtet werden bzw. über diese in Verständigung kommen, wobei (Interessens-)Divergenzen politisch in Ausgleich zu bringen sind. Darin erst lässt sich die noch offene Stelle eines sozialräumlich-qualitativen Begriffs sozialer Gerechtigkeit füllen, wie er für eine revolutionär-transformative Bildung von Nöten ist und der in der Diskussion um Klimagerechtigkeit derweil noch fehlt. Damit bedeutet Nachhaltigkeit zugleich eine subjektbildende Politik, d.h. eine politische Produktivität, die über eine verlässliche Verständigungskultur eine verbindliche politische Struktur herauszubilden vermag, in der die Akteure ihre Auseinandersetzungen und Ergebnisse wiederfinden, weil es die von ihnen verlegten Gleise sind, „auf welchen sie sich bewegen wollen“ (Winkler 1988: 279).

In dieser Hinsicht muss Partizipation letztlich politische Selbstverwaltung bedeuten, die vor dem Hintergrund der notwendigen globalen Problembearbeitung des gemeinsamen globalen Klimaproblems planetarischen Ausmaßes auf kommunaler und globaler Ebene zur Praxis werden müsste. Darin sind nun zugleich auch die „grundlegende[n] gesellschaftliche[n] Veränderungen“ (Wulf 2020: 204) ausgesprochen, von denen Wulf zwar spricht, aber letztlich unausgesprochen lässt, worin sie bestehen. Dadurch lässt er aber auch offen, dass es für die Abkehr von „‘organisierte[r] Friedlosigkeit‘ (Senghaas) und ‚strukturelle[r] Gewalt‘ (Galtung)“ (ebd.: 211) auf kommunaler gesellschaftlicher Ebene darauf ankäme, eine Bildung des Sozialen zur Bildung am Sozialen (Kunstreich/May 1999) zu ermöglichen. Denn dadurch erst ließe sich eine lokal wie global sozial nachhaltige Kultur der kulturellen Vielfalt als Element einer politisch organisierten weltweiten Kultur des Friedens verwirklichen, die Wulf im Begriff des Anthropozäns normativ angelegt sieht.

Das Bisherige zusammengenommen: Woran lässt sich das Anthropozän als sozial nachhaltige politische Verwirklichung eines subjektiven Gemeinwesens im globalen Maßstab mit planetarischer Reichweite erkennen? Sie lässt sich erkennen im Rückgang der zerstörerischen Knechtung und Umgestaltung der Erdnatur bei gleichzeitigem Anstieg der Vielfalt menschlicher Lebensweisen und nicht-menschlicher oder hybrider Lebens- und Seinsformen, bei wiederum gleichzeitigem Anstieg der Rückgewinnung der Erde als politisches Gemeingut und der gemeinsamen demokratischen Regulierung ihrer Ökologie, wodurch die Radikalität des erderwärmenden Klimawandels ausgebremst und dessen gesellschaftlichen Effekte sozial aufgefangen würden. Über die Qualität dieses politischen Gemeinwesens ist entlang dieser Erkenntniskaskade freilich noch nichts gesagt. Das spricht einmal mehr dafür, die Klimadebatte nicht nur wissenschaftlich quantifizierend – sei es nun im Bereich naturwissenschaftlicher Disziplinen oder im Bereich sozialwissenschaftlicher Disziplinen – zu bearbeiten, sondern vor allem auch durch qualifizierende Wissenschaften zu ergänzen. Das wiederum spricht einmal mehr dafür, für das Klimaproblem und für den daran gekoppelten Begriff sozial-ökologischer Transformation ein theoretisch wie praktisch transdisziplinäres (Mittelstraß 2005) Problem- und Transformationsverständnis zu entwickeln, das sich nicht im Logozentrismus erschöpft, sondern ihre transformative Produktivität in Theorie- und Praxisentwicklung stattdessen in der Anerkennung der kulturellen Vielfalt und ihren Arten und Weisen, Wissen zu schaffen, zu erblicken.

Doch auch dieses Verständnis muss entwickelt und aus dem hegemonialen Selbstverständnis der logozentrischen Vernaturwissenschaftlichung des Klimaproblems sowie ihrer Bearbeitungs- und Lösungsstrategien herausgebildet werden. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund der numerischen Dominanz naturwissenschaftlicher AkteurInnen im Klimadiskurs (MCC 2020) ein nicht zu unterschätzendes Problem. Das grundsätzliche Problem des Logozentrismus, das bei genauem Besehen in einem (nomologischen) Deduktivismus besteht, besteht darin, dass deduktiv erschlossene Transformationsstrategien zwar im Rahmen ihrer eigenen Annahmen, wie sie etwa in der Formulierung planetarischer Leitplanken[1] der Urbanisierung bzw. der Vergesellschaftung von Naturverhältnissen erarbeitet wurden, sinnvolle Ziele herleiten können. Problematisch sind aber ihr global undifferenzierter objektiver Gültigkeitsanspruch, der neben regionalen Unterschieden gesellschaftlicher Produktionsweisen und ihrer klimatologischen Effekte auch ihre „diskursiven Implikationen“ (Görg 2016: 240) unberücksichtigt lässt. Denn wie selbstverständlich wird expertokratisch impliziert, dass die gesellschaftlichen PraxisakterInnen an der Entwicklung von Leitplanken und darin(!) sich bewegenden Transformationsstrategien keinerlei Mitsprache- und Mitgestaltungsmöglichkeiten haben, so dass ihnen letztlich bloß die Rolle zukommt, „sich in ein funktionsfähig konzipiertes Modell einzufügen und es zu verwirklichen“ (Demirović 2011: 41), was dann berechtigterweise „als Korruption der eigenen Selbstbestimmungsinteressen wahrgenommen“ (Kaindl 2011: 73) wird und letztlich nicht selten zur Ablehnung des notwendigen Transformationsdiskurses führt. Zudem können deduktivistische Transformationsprojekte immer nur sehr kleinschrittige Projekte mit wenig umwälzender Innovationskraft sein, weil die Projekte immer nur soweit gehen können, wie die BürgerInnen geradeso bereit sind sie mitzugehen bzw. sie entlang der Zirkelzwänge der „imperialen Lebensweise“ (Brand/Wissen 2017) tatsächlich mitgehen können. Solange weder die konkreten Transformationsmaßnahmen und Strategien ihrer Umsetzung, noch die deduktiven Prüfkriterien nicht mit den konkreten AkteurInnen vor Ort zusammen entwickelt werden, sondern sie ihnen a priori und von außen, d.h. von ExpertInnen auferlegt werden, solange sind gesellschaftliche Transformationsprojekte latent herrschaftlich aufgeladen und drohen daran zu scheitern. Oder aber sie verlangen – gerade bei der sich zuspitzenden Klimaproblematik – sukzessive nach mehr herrschaftlichen bzw. obrigkeitsstaatlichen Zwang ihrer Umsetzung (Stichwort Ökodiktatur).

Beide Konsequenzen der logozentrischen Handhabung des Klimaproblems sowie ihrer Bearbeitungs- und Lösungsstrategien legen ein grundlegendes Umdenken nahe, das das Anthropozän als transdisziplinäres Projekt sozialer Nachhaltigkeit begreifen lässt. Ein solch transdisziplinärer Transforma­tions­begriff bedarf zur Theorie- und Praxisentwicklung die komplementäre Ergänzung verschiedener disziplinärer Perspektiven und Methodologien seitens der verschiedenen wissenschaftlichen AkteurInnen untereinander, aber auch zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen AkteurInnen. Zwingende Voraussetzung ist hierfür das (An)Erkennen des mimetischen Verhältnisses zur Welt, wie es seit Humboldt zwar in den Bildungsbegriff eingeschrieben ist (zum Überblick: Wulf 2020: 49ff.), das aber entlang des hegemonial vorherrschenden Logozentrismus und eines perzipierenden Erkenntnismodells, bei dem der Mensch als passiv bloß aufnehmender Zuschauer der Welt in Erscheinung tritt, noch immer nicht das alltägliche Verständnis des Menschen kennzeichnet. Für eine revolutionäre Produktivität sozial-ökologisch-transformativer Theorie- und Subjektbildung muss daher Nicht-Identität zur zentralen Kategorie des Bildungsprozesses erhoben werden, wonach es nicht länger darauf ankommen kann, alle Erkenntnis unter ein Wissenschaftsparadigma zu subsumieren, und schon gar nicht, die PraxisakteurInnen der Städte nach einer Theorie oder der deduktiven Herleitung aus einer Theorie zuzurichten. Auch wenn die Klimafrage die wohl drängendste Soziale Frage der Gegenwart darstellt, darf sie nicht dazu verführen, die Knechtung inner-menschlicher Naturverhältnisse gegen die Rettung der Erde utilitaristisch abzuwägen und fortzuführen.

So etwa im „(bio-)technologischen Narrativ“ des Anthropozäns, einem „fortschrittsoptimistische[n] Narrativ“, das zwar „‘ein gutes, wenn nicht sogar großartiges Anthropozän‘ mit Wohlstand für alle Menschen bei hoher Energieverfügbarkeit durch hocheffiziente Solar-, aber auch Kernenergie, niedrigem Ressourceneinsatz und verbessertem Naturschutz [verspricht]“, zugleich aber „die vorhersehbare Machtkonzentration der technischen und ökonomischen Eliten [normalisiert] und […] nicht beabsichtigte Nebenwirkungen herunter[spielt]“ sowie „die technologischen Eliten als die neuen ‚Helden‘ [präsentiert], die allein die Probleme lösen könnten“ (Dürbeck 2018a: 16). Stattdessen müsste es vielmehr darauf ankommen theoretische, kulturelle und individuelle Differenzen in der alltäglichen wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen Praxis der AkteurInnen anzuerkennen und zu politisieren, statt sie mit struktureller Gewalt, zu der auch der Logozentrismus gezählt werden muss, zum Schweigen zu bringen. Etwa dadurch, dass der dem Logozentrismus innewohnende Utilitarismus, d.h. der deduktiv bewertenden und begutachtenden Abwägung von Partikular- und Gesamtinteressen, im Kontext der Klimafrage nahezu jede Kritik mundtot zu machen droht, da sie letztlich immer nur als partikulare Marginalie gegenüber einer zu rettenden Erde in Erscheinung treten kann. Damit ist im Namen der Erdrettung jedweder öko-diktatorischen Tyrannei Tür und Tor geöffnet.

Gerade vor dem Hintergrund dieses sich ankündigenden Szenarios muss Bildung heißen, individuelle Aneignungsprozesse und kritische Reflexionen zu ermöglichen, statt flächendeckende kritiklose Anpassungsleistungen (Mimikry) an objektiv-verfertigte Lösungsstrategien entlang eines Expertenkonsenes zu verlangen, wie es im vorschnellen Abwerten von sogenannten KlimaskeptikerInnen und KlimaleugnerInnen bereits heute alltäglich zum Vorschein kommt. Bildung muss also auch heißen, sich hinsichtlich der alltäglichen Sachzwänge der „imperialen Lebensweise“ (Brand/Wissen 2017) zu fragen, warum sich die einen die Klimathematik aneignen (können) und warum andere dies nicht tun (können). Bildung im Anthropozän muss entsprechend darauf aus sein, allen Menschen zu ermöglichen, die Erde als sympoietisches Ökologiegefüge zu erkennen und anzuerkennen und letztlich solche politischen Konsequenzen pädagogisch zu erarbeiten, die die Spezies Mensch nicht länger allein ins Zentrum der Welt setzen. – Ob aus der „exzen­trischen Positionalität“ des Menschen der Schluss gezogen werden kann, dass das „ganze sogenannte Anthropozän […] tendenziell nämlich durch ein Kosmozän vermittelt [ist], in dem sich bereits ein weiteres – nun durch den Menschen vermitteltes kosmisches Zeitalter anbahnt“, weil mit der Raumfahrt nicht nur eine „exzentrische Positionialität“ auf der Erde, sondern auch im Kosmos erfahrbar wird (Fischer 2018: 131ff., Hervorhebung im Original), sei einmal dahin gestellt. In der vorliegenden Arbeit geht es allein darum, die bevorstehenden Aufgaben und Probleme dieser Erde grundlegend in den Griff zu bekommen, nicht darum, mit der Zerstörung der Bewohnbarkeit dieses Planeten die Flucht zum nächsten zu legitimieren.

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[1]      Die Bezeichnung geht auf den WBGU (2014b) zurück, der darin quantitativ definierte begrenzte Leitlinien berechnet, durch deren globale Einhaltung die Erderwärmung und Ozeanversauerung begrenzt, der Verlust der Biodiversität, die Land- und Bodendegradation sowie die Gefährdung durch langlebige anthropogene Schadstoffe also auch den Verlust von Phosphor gestoppt werden können. Sie sind auch Ausgangspunkt des Konzept zur Transformation der Städte (WBGU 2016b).

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Marcel Schmidt: Eine theoretische Orientierung für die Soziale Arbeit in Zeiten des Klimawandels. Von der ökosozialen zur sozial-ökologischen Transformation

Gesellschaft und Nachhaltigkeit, Band 9

 

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