„Die Verrätselung von Antisemitismus” – Interview mit Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai, Herausgeberinnen von „Die Shoah in Bildung und Erziehung heute”

 

 

 

 

Über das Buch

Die Zeit des Nationalsozialismus hat bis heute Nachwirkungen auf die Gesellschaft. Doch wie wird die Shoah im Studium und in der Lehre thematisiert? Dieses Buch untersucht multiperspektivisch die Wirkungsgeschichte der Shoah in verschiedenen Settings von Erziehung und Bildung und reflektiert die bisherige theoretische und empirische Forschung. Das Wissen über und Bezüge zur Shoah vermitteln sich zwischen den Generationen weiter und aktualisieren sich zugleich fortlaufend in institutionellen und diskursiven Kontexten der Gegenwartsgesellschaft. Dies betrifft Pädagog*innen in mehrfacher Hinsicht: In ihrer eigenen Biographie und Lerngeschichte und in ihrer späteren Vermittlungspraxis. Die Autor*innen beschäftigen sich u.a. mit der Erinnerungspolitik, Gefühlserbschaften und der Thematisierbarkeit der Shoah in verschiedenen Sozialisierungsprozessen.

 

Liebe Marina Chernivsky, liebe Friederike Lorenz-Sinai, gerade erschien Ihr Titel Die Shoah in Bildung und Erziehung heute. Welche Themen spricht der Sammelband an?

Mit unserem Sammelband wollten wir der Frage nachgehen, wie die Geschichte der Shoah im Alltag von Erziehung und Bildung weiterwirkt und sich in unseren Gegenwartsbeziehungen aktualisiert. Die interdisziplinären Beiträge im Buch eint die Auseinandersetzung mit der Nachgeschichte der Shoah in den Gegenwarten von Familien, Paarbeziehungen, Gedenkstätten, Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen. Insgesamt achtzehn Autor:innen befassen sich mit der Bedeutung des immateriellen (emotionalen) Erbe dieser Vergangenheit. Sie diskutieren Formen der Auseinandersetzung mit Geschichte im Hinblick auf die damit verwobenen Verstrickungen, Leerstellen oder Auslassungen. Dabei stehen die transgenerationale Weitergabe von Wissen und Erfahrungen ebenso im Fokus wie Orte der Vermittlung, der Auf- und Verarbeitung. Unser Anliegen war es, diese Themen aus den Perspektiven von Nachkommen der Täter:innengesellschaft und von Überlebenden der Shoah in einem Band zu versammeln, so dass die divergenten Erfahrungen nicht verwischt, sondern in ihrer Asymmetrie und Gleichzeitigkeit in der Gegenwartsgesellschaft deutlich werden.

 

Gingen der Veröffentlichung bestimmte Beobachtungen voraus?

In unseren gemeinsamen Forschungen zu Antisemitismus im Kontext von Schulen und Gedenkstätten haben wir unter anderem mit Lehrer:innen und Schulleitungen (selbstläufige) narrative Interviews und Gruppendiskussionen zu ihren Erstberührungen mit Antisemitismus geführt. Dabei wurden abstrakte und historisierende Bezüge aus ihrer Kindheit deutlich, meistens mit Bezug zur Shoah. Die Interviewpartner:innen schilderten Bilder und Botschaften über die Shoah, die eher selten innerfamiliär vermittelt wurden, sondern überwiegend außerhalb der Familie, nämlich in der Schule oder in Gedenkstätten. Sie wussten, dass es da etwas gibt, aber den Sinn mussten sie selbst entschlüsseln. Diese Formen der (kollektiv-)biografischen Aneignung der Geschichte der Shoah und der daraus entwickelten dominanzgesellschaftlichen Vorstellungen von Antisemitismus und jüdischen Gegenwarten sind von weitreichender Bedeutung: Sie konkretisieren sich in Interaktionen und pädagogischen Beziehungen und in der Ausgestaltung von Bildungsprozessen. So stellt die „Verrätselung von Antisemitismus“ einen zentralen Befund unserer Studien dar, die offenbar aus einer auf Distanz gehaltener Geschichte entsteht und das Ringen um die Annäherung und die Sprache offenbart. So wird auch Antisemitismus externalisiert, gilt als überwunden und wird von nicht jüdischen Pädagog:innen als schwer greifbar beschrieben. Zugleich schildern sie antisemitische Übergriffe im Alltag von Bildungsinstitutionen, oftmals mit Bezug zum Nationalsozialismus und zur Shoah.

Diese vielschichtigen Prozesse der Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus und Shoah in den generationalen Gegenwartsverhältnissen von Familien und Institutionen der Bildung und Erziehung wollten wir ausleuchten und vertiefter analysieren. Zudem wollten wir der Frage nachgehen, wie die Geschichte der Shoah innerdisziplinär verarbeitet und erforscht wurde. Wir haben Autor:innen angesprochen, die mit ganz verschiedenen Zugängen in diesem Feld forschen und lehren, um ihre Beiträge in einem Band zusammenzuführen.

 

Der Beitrag von Micha Brumlik beschäftigt sich mit „Postmemory und transgenerationalem Trauma“. Sie beide schreiben über „Gefühlserbschaften“. Was sind typische Herausforderungen bei der Vermittlung der Shoa für Lehrende?

Das Konzept der Gefühlserbschaften beschreibt das Erbe einer (impliziten) unbewältigten oder nur teilweise verarbeiteten Vergangenheit, die bis in die Gegenwart von Einzelnen, Gruppen und Gesellschaften hineinreicht. Lehrende bewegen sich in einer Dissonanz: Einerseits die Brüche und Lücken in den familialen Erzählungen, anderseits die offizielle, oberflächliche Erinnerungskultur, die Formen des Gedenkens und Erinnerns vorgibt und reguliert. Pädagog:innen sind in diesen Widersprüchen aufgewachsen, die in Ausbildung und Studium kaum thematisiert werden. Gleichwohl müssen sie in ihrer eigenen Praxis diese Themen aufgreifen und mit ihren eigenen Emotionen sowie denen ihrer Schüler:innen umgehen. Das ist sehr herausfordernd.

 

Es leben nur noch wenige Zeitzeug*innen der Shoa. Wie verändert sich die Weitergabe von Erinnerung dadurch?

Die Epoche der Zeitzeug:innenschaft geht ihrem Ende entgegen. Das Vermächtnis der Verfolgten und Überlebenden der Shoah, aber auch die Frage danach, wie wir in Zukunft mit diesem Erbe umgehen sollen, bleiben. An dieser Stelle ist es wichtig in Erinnerung zu rufen, dass es in Deutschland über drei Jahrzehnte gedauert hat, bis ihre Stimmen die Forschung, Bildung und die breite Gesellschaft erreicht haben. Lange wurden ihre Zeugnisse nicht gewürdigt. Zu der Geschichte der Zeug:innenschaft gehört das (Ver-)Schweigen der Täter:innen und Nachkommen, nicht nur in der Gesellschaft allgemein, sondern auch in der Wissenschaft. Wir müssen daher viel stärker die Frage der je eigenen Bezüge zur Wirkungsgeschichte der Shoah in den Fokus rücken und den Umgang damit in Forschung und Lehre kritisch reflektieren. Mit unserem Sammelband wollen wir hierzu Impulse geben.

 

Darum sind wir Herausgeberinnen bei Budrich

Weil wir die von Budrich herausgebrachten Bücher und Publikationen sowie ihre Schwerpunktsetzungen sehr schätzen ebenso wie die unterstützende Zusammenarbeit des Verlags mit uns als Herausgeber:innen.

 

Kurzvitae der Herausgeberinnen

Friederike Lorenz-Sinai ist Erziehungswissenschaftlerin, Sozialarbeiterin und Erzieherin. Sie ist Professorin für Methoden der Sozialen Arbeit und Sozialarbeitsforschung und Leiterin des Masterstudiengangs Childhood Studies and Children’s Rights an der Fachhochschule Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte betreffen (sexualisierte) Gewalt in Institutionen und deren Aufarbeitung, Schweigen als soziale Praxis, Antisemitismus im Bildungswesen und Bildung zur Shoah.

Marina Chernivsky ist Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin. Sie forscht u.a. zu transgenerationaler Weitergabe von Trauma, zu Antisemitismus, Bildungswesen und antisemitismuskritischer Bildung. Sie ist Leiterin des von ihr gegründeten Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment in Trägerschaft der ZWST e.V. sowie Gründerin und geschäftsführende Vorständin von OFEK e.V. – Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung. Seit 2107 ist sie Mitherausgeberin der Zeitschrift Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart.

 

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© Foto Marina Chernivsky: Benjamin Jenak (Veto Magazin) | Foto Friederike Lorenz-Sinai: Marina Chernivsky