Eine neue Perspektive auf Intersektionalität

Soziologiemagazin 2-2021 (Nr. 24): Crossroad-Puzzle. Intersektionelle Gesellschaftstheorie zwischen Strukturen, Kategorien und Ideologien

Crossroad-Puzzle. Intersektionelle Gesellschaftstheorie zwischen Strukturen, Kategorien und Ideologien

Robin Forstenhäusler

Soziologiemagazin, Heft 2-2021 (Nr. 24), S. 19-40

 

In der makrosoziologisch ausgerichteten Intersektionalitätsforschung werden Rassismus, Klassen- und Geschlechterverhältnisse als ‚Strukturkategorien‘ konzeptualisiert. Diese theoretische Rahmung verdinglicht ineinandergreifende und widersprüchliche gesellschaftliche Prozesse und nivelliert zugleich ihre Besonderheiten. Dagegen wird im vorliegenden Text für einen Perspektivwechsel argumentiert: Gesellschaft wird mit Rekurs auf die Kritische Theorie als Totalität begriffen, innerhalb derer die heterogenen Antagonismen in einem dynamischen Verhältnis stehen. Anhand des Verhältnisses von Rassismus und Antisemitismus wird gezeigt, wo Leerstellen des konzeptionellen Rahmens von ‚Rasse‘, Klasse und Geschlecht liegen und warum dagegen eine ideologiekritische Konzeptualisierung von Intersektionalität sinnvoll ist.

Schlagwörter
Intersektionalität; Gesellschaftstheorie; Strukturkategorie; Sozialontologie

 

Einleitung

Intersektionalität ist inzwischen ein allgegenwärtiges Buzzword (vgl. Davis 2008). In Sozialwissenschaft, Jurisprudenz und Pädagogik hat sich Intersektionalität als heuristisches Modell etabliert. In den politischen Strömungen des (Queer-)Feminismus und Antirassismus gehört es heutzutage fest zum eigenen Selbstverständnis. Die Gemeinsamkeit der verschiedenen wissenschaftlichen und politischen Bezugnahmen besteht indes in der Uneinigkeit über die konkrete begriffliche Fassung (vgl. ebd.: 67). Der Versuch, sich Intersektionalität als theoretischem Gegenstand zu nähern, gestaltet sich daher schwierig. Zu breit gefächert und heterogen ist die Rezeption des Ansatzes, der ursprünglich von Kimberlé Crenshaw ins Leben gerufen wurde. Orientiert man sich an Crenshaw (1989: 139f., 151) selbst, ist der Gegenstand von Intersektionalität vornehmlich die Diskriminierungserfahrung sowie deren Gegenstück, das Privileg. In einer Metapher drückt die Rechtswissenschaftlerin aus, was genau unter Intersektionalität vorzustellen sei: Eine Schwarze Frau erleidet auf einer Kreuzung (intersection) einen Unfall. Die sich kreuzenden Straßen stehen dabei jeweils für rassistische und sexistische Diskriminierung. Die Ursache des Unfalls kann aus jeder der beiden Fahrtrichtungen erfolgen oder auch aus beiden zugleich; die Person kann demnach als Schwarze, als Frau oder als Schwarze Frau diskriminiert werden. Letzterer Fall sei nicht additiv zu denken, da aus der Intersektion Schwarz/weiblich Diskriminierungserfahrungen emergieren können, die mehr als die Summe ihrer Teile sind (vgl. ebd.: 149).

Der Bewertungsmaßstab orientiert sich hier mehr an den negativen Erfahrungen der von Diskriminierung Betroffenen und weniger an den gesellschaftlichen Funktionsweisen, die sie bedingen. Der Mainstream der Intersektionalitätsforschung formuliert daran anknüpfend eine eher moralische als gesellschaftstheoretisch informierte Kritik. So verstandene intersektionale Praxis zielt mit Rekurs auf Crenshaw auf die „inclusion of marginalized groups“ (ebd.: 167), beispielsweise mittels der Entwicklung von Antidiskriminierungstrainings und Diversitätsmanagement. Von der Verfasstheit der Gesellschaft, die kritisiert wird, erfährt man hingegen wenig – im Grunde nur, dass sie die bereits vorausgesetzten diskriminierenden Effekte hervorbringt (vgl. Zander 2017: 53). In einem Überblickstext zum Thema wird zwar postuliert, Intersektionalität ließe sich nicht auf Diskriminierungsformen reduzieren und dass das intersektionelle Paradigma „[k]eine konkrete theoretische Zugangsweise vorgibt (etwa gesellschaftstheoretische Ansätze, Identitätstheorien oder Dekonstruktivismus)” (Marten/Walgenbach 2017: 158); nichtsdestotrotz werden einige grundsätzliche Schwierigkeiten offenbar, die sich aus der makrosoziologischen Erweiterung eines ursprünglich auf der Mikro- und Mesoebene operierenden diskriminierungstheoretischen Ansatzes ergeben. Diese werde ich zuerst mit Blick auf den aktuellen Diskurs darstellen und im darauffolgenden Kapitel umfassender diskutieren. Mit Blick auf die sozialtheoretischen Grundlagen stellt sich die Frage, was im Rahmen der Kreuzungs-Metaphorik eigentlich überkreuzt wird – ist dies auf der Ebene von individuellen Merkmalsträger*innen unmittelbar ersichtlich, gestaltet sich die Beantwortung im Falle komplexer sozialer Verhältnisse schwieriger. Intersektionalität kann hier „zum Containerkonzept für alles werden, was sich ‚kreuzt‘ oder als kreuzbar vorstellen lässt“ (Knapp 2013: 343). Wie gezeigt wird, ist die Aufteilung sozialer Relationen in kreuzbare Bausteine allerdings problematisch – man hat es gleichsam mit einem intersektionellen Puzzle zu tun, das Leerstellen aufweist und dessen Puzzleteile überdies nicht recht zusammenpassen. Die vorliegende Arbeit zielt auf die Analyse der Grenzen einer innerhalb der Heuristik des Intersektionalitätsparadigmas gefassten Gesellschaftstheorie, indem sie die Perspektive jeweils auf die Überkreuzung von Strukturen, Strukturkategorien und Ideologien fokussiert. Es wird dabei vor allem die Dimension des Rassismus und abschließend auch dessen Verhältnis zum Antisemitismus im Zentrum der Betrachtung stehen, um anhand dessen die Problematik zu entfalten. Schlussendlich werden die Ergebnisse zusammengefasst.

Intersektionelle Gesellschaftstheorie – Forschungsstand und Problemexposition

Die Ungleichheitsforscherin Leslie McCall unterscheidet drei methodologische Ansätze innerhalb des Intersektionalitätsdiskurses: intra-kategoriale Zugänge, die sich mit Differenzen innerhalb einer Kategorie beschäftigen, anti-kategoriale Zugänge, denen es um die Dekonstruktion von Gruppenkategorien geht und inter-kategoriale Zugänge, die, von bestehenden Ungleichheitsverhältnissen ausgehend, deren Interferenzen in den Blick nehmen (vgl. McCall 2005). Auffallend ist hier die Verwendung des Kategorienbegriffs, der die Literatur wie ein roter Faden durchzieht, indes kaum spezifiziert wird. Klar ist, dass es sich hier nicht um den Kategorienbegriff der philosophischen Tradition handelt, etwa um Seins- und Aussageweisen im Sinne der aristotelischen Kategorienlehre oder um kantsche Verstandesbegriffe. Vielmehr scheint Kategorie etwa in der Bedeutung von ‚Rubrik‘ als Ordnungsbegriff gebraucht zu werden.

Doch anhand von McCalls Einteilung wird bereits deutlich, dass hier zweierlei rubriziert wird: Einerseits handelt es sich um Identitätskategorien beziehungsweise group memberships, deren Interferenz innerhalb der beschreibende Soziologie anhand von Merkmalen (Hautfarbe, Einkommen, Geschlechtsmerkmale) gedacht wird und die der Gegenstand intra- und anti-kategorialer Ansätzen sind – diese Ebene hat die Merkmalsträger*innen als fertige gesellschaftliche ‚Produkte‘ zum Gegenstand – andererseits fokussieren sich inter-kategoriale Ansätze auf diejenigen sozialen Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse, die jene Merkmalsträger*innen zuallererst ‚produzieren‘. Sie werden als sogenannte Strukturkategorien in der Analyse vorausgesetzt, wobei in den Sozialwissenschaften die ‚contemporary holy trinity‘ (Terry Eagleton) von ‚Rasse‘, Klasse und Geschlecht gängig ist. Ihr Zusammenwirken innerhalb komplexer gesellschaftlicher Dynamiken zu denken, birgt jedoch erhebliche theoretische Schwierigkeiten (vgl. Soiland 2012). Zudem wird die Frage nach der Vermittlung beider kategorialer Ebenen aufgeworfen.

Makrosoziologische Theorien, denen dieser Ausgangspunkt (Einteilung gesellschaftlicher Verhältnisse in Kategorien sozialer Teilung und Analyse derer Intersektionen) zu eigen ist, gibt es in verschiedener Ausgestaltung, etwa aus feministischer Perspektive, systemtheoretisch oder praxeologisch orientiert (vgl. überblickshaft Knapp 2013: 348ff.). Dem vorliegenden Text geht es indes ausdrücklich nicht darum, eine spezifische Theorie in concreto zu kritisieren. Vielmehr besteht sein Anliegen darin, zu prüfen, inwiefern eine solche Anwendung der intersektionalen Heuristik auf gesellschaftstheoretischer Ebene mit bestimmten grundsätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert ist. Statt einen umfassenden aktuellen Forschungsstand darzustellen, umreiße ich im Folgenden die Problematik anhand von zwei prominenten Beispielen.

* * *

Sie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist in dem Heft 2-2021 (Nr. 24) der Zeitschrift Soziologiemagazin erschienen.

© Unsplash 2022, Foto: Martin Reisch