„Kindheit zwischen Recht und Schutz“: Leseprobe

Kinder © Unsplash 2021 / Foto: Artem Kniaz

Kindheit zwischen Recht und Schutz: Wissen und Praktiken von Fachkräften im Kinderschutz

von Rita Braches-Chyrek

 

Über das Buch

Rita Braches-Chyrek stellt in diesem Buch Forschungsergebnisse über den Stellenwert von Kinderinteressen im Kinderschutz vor. Leitmotivisch wird der Frage nachgegangen, wie die Handlungsfähigkeit, Mitgestaltungsmöglichkeiten, Beteiligung am „Austarieren“ von Bedarfen, Anpassungsstrategien und Mechanismen der Selbstselektion von Kindern berücksichtigt werden. Die Darstellung der Befunde zu den Positionierungen der Fachkräfte des Allgemeinen Sozialen Dienstes und der Kindertagesbetreuung im Kinderschutz ermöglichen eine Diskussion über die konkreten professionellen Handlungsmöglichkeiten bei der Wahrnehmung von Kinderinteressen.

Leseprobe: S. 13-17

 

1 Kindheit zwischen Recht und Schutz

Kindheit ist exklusiv, ein privilegierter und schützenswerter Ort der magischen Momente, der glücklichen Erinnerungen, des Vergnügens, des Staunens, der Unschuld und eben auch der Sorge und Angst (Garlen 2019, S. 55). Schon dieser Befund zeigt, dass die gesellschaftlichen Wahrnehmungen und Deutungen von Kindern und Kindheit überaus different sind. Kindheit als eine Zeit der Glückseligkeit, sorglosen Verzauberung ist ein mächtiges soziales Konstrukt, was dazu geführt hat, Erwartungen darüber zu formulieren, wie Kindheit zu sein hat. Eine Vielzahl von emotionalen Investitionen und sozialen Spannungen haben die Konzepte von Kindheit ausgeformt und eben auch die Vorstellungen des grundlegenden, universellen und nicht hinterfragbaren Schutzes von Kindern.

Bereits in den Anfängen der Kinderrechtsbewegung im 18. Jahrhundert lassen sich die Narrative über die „gefährdete Unschuld“ der Kindheit nachweisen (ebd., S. 63). Sie führten dazu, dass gesellschaftliche Normen, Regeln, Prinzipien, Dispositionen, Gewohnheiten, Haltungen oder Annahmen einer grundlegenden Überprüfung unterzogen werden konnten. Mit der nachdrücklichen Forderung das „unveräußerliche Recht des Kindes auf seine Kindheit“ in allen Lebensbereichen umzusetzen wurde ein bis heute gültiger und umfassender Schutzgedanke formuliert (Cunningham 2005, S. 227; Liebel 2017a, S. 29).1 Dabei orientiert sich der vehement eingeforderte Schutz für kindliches Leben an unterschiedlichen – vielfach im Kontext der ideengeschichtlichen Entwicklungen der Aufklärung entstandenen – Vorstellungen moderner Kindheit (Bühler-Niederberger 2020, S. 89).

Zentral war sicherlich die Annahme, dass Erziehung und Bildung von Kindern einen nachhaltigen Nutzen für die Gesellschaft haben. Demzufolge sollten jegliche Gefährdungen, wie bspw. Einflüsse des Milieus und/oder der Familie bzw. Erziehungsverantwortlichen, eine frühzeitige Einbindung in Arbeitsprozesse oder den Militärdienst, vermieden werden. Gleichzeitig ging es auch um eine möglichst wirksame Sozialisierung der Kinder, damit die Übernahme von Wert- und Normvorgaben sowie das Hervorbringen von erwünschten „vernünftigen“ Verhaltensmustern gewährleistet werden können (Locke 1990; Jean-Jacques Rousseau 1971; Bühler-Niederberger 2020, S. 89).

Diese ersten Formen des Erklärens und Verstehens von Bildungs- und Erziehungsmustern, kulturellen Praktiken und Programmen zu den sozial erwünschten Aktivitäten von Kindern wie auch zur Einleitung von Prozessen der Ordnungsbildung führten zu Debatten um alternative Wissensordnungen.

So werden die Schemata, welche die Wahrnehmung, die Bewertung, das Denken und das Handeln strukturieren […] durch die pädagogische Arbeit aufgezwungen und eingeprägt (Bourdieu 2004, S. 45).

Es entstanden Überlegungen zu Partizipations- und Teilhaberechten von Kindern, wie z.B. bei Thomas Spence in seinem Werk „The Rights of Infants“ (1796). Somit konnten neue Akzentsetzungen hin zu Fürsorge, Schutz, Absonderung und Beaufsichtigung von Kindern ermöglicht werden (Cunningham 2005, S. 192).

Mit dem Bestreben eigenständige Kinderpolitiken zu etablieren, konnten weitere zentrale Betätigungsfelder für Regierungen, kommunale und karitative Organisationen sowie anderen Akteur*innen in den Bereichen der sozialen Dienste und der Wissenschaft – insbesondere der Pädagogik – etabliert werden. Die Verhinderung von Armut, die Einschränkung von Kinderarbeit und eine Verstetigung der Erziehungs- und Bildungsbemühungen sind bis heute zentrale Ziele staatlicher Maßnahmen in den Bereichen des Kinderschutzes.2

Pädagogisch legitimierte, staatlich abgesicherte und geförderte Leitbilder von Sorgeordnungen, die sowohl sozialstaatliches Handeln wie auch die Entscheidungen von Akteur*innen auf den unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen der Gewährleistung des Kinderschutzes und der Einhaltung von Kinderrechten legitimieren waren die Folge, nicht zuletzt aufgrund der breiten öffentlichen Diskussion schwieriger Fallbearbeitungen im Kinderschutz.

Der Kinder- und Jugendhilfe wird eine ganz besondere und grundsätzliche Kinderschutzfunktion zugeschrieben, die nicht zuletzt durch das Kinder- und Jugendhilferecht (KJHG) (SGB VIII) gerahmt wird. Zum einen wird Hilfe in Form von Beratungsleistungen, Begleitungen, usw. wie auch von Räumen (z.B. für Wohngruppen, Tagesgruppen usw.) für Kinder und ihre Eltern in schwierigen Lebenssituationen zur Verfügung gestellt. Zum anderen sind mit der Entstehung des Arbeits-, Handlungs- und Wissenschaftsfeldes des Kinderschutzes auch vielfältige Vorgaben und Kontrollaufgaben bzw. -systeme entstanden.

Mit dem Anspruch Kinder vor jeglichen realen, möglichen oder potenziellen Gefahren schützen zu wollen, konnten sich einer Reihe administrativer Steuerungsmöglichkeiten herausbilden. Die Sicherung des Kindeswohls wurde zu einer zentralen Begründungsfigur für (präventiv angelegte) Hilfeaufgaben und die kontrollierenden Interventionen der Sozialen Dienste. Beide Handlungsbereiche sind in der Kinder- und Jugendhilfe mittlerweile fast gleichrangig. Deutlich wird dies auch an den aktuellen Zahlen. Die Verfahren zum Kindeswohl nehmen seit Jahren kontinuierlich zu, ebenso wie die Anzahl von Inobhutnahmen (Antholz 2019, S. 221).3

Dabei ist trotz der gesetzlichen Vorgaben nicht von vornherein klar, wie sich die konkrete Zusammenarbeit in den jeweiligen Arbeitsfeldern und Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe gestaltet.

Die Wahrnehmung von Aufgaben und Zuständigkeiten, die Formen der gemeinsamen Fallbearbeitungen und Entscheidungen, die Autonomieansprüche wie auch die konkreten Handlungsmöglichen der Akteur*innen im Kinderschutz sind nicht unbedingt einheitlich.

Auch zeigen die zentralen Diskurslinien um die Vermeidung von Fehlern und die Minimierung von Risiken4, dass die Berücksichtigung von Kinderinteressen und die Beteiligung von Kindern im Kinderschutz noch wenig erforscht ist. Demzufolge sind die Fragen danach, welche besonderen Herausforderungen an das Handeln der zentralen Akteur*innen im Kinderschutz, der Mitarbeiter* innen im Jugendamt sowie in der frühen Kindheit gestellt werden Gegenstand der nachfolgenden Diskussionen.

Leitmotivisch wird davon ausgegangen, dass kontinuierliche Relationierungen in der unmittelbaren Ausgestaltung der professionellen Praxis5 hinsichtlich folgender Aspekte relevant sind:

  1. Das Spanungsverhältnis von Recht und Schutz wirkt auf die Handlungsmuster, -fähigkeiten, -kompetenzen und -möglichkeiten wie auf die Autonomieansprüche der Akteur*innen im Kinderschutz.
  2. Der „Erledigungsdruck“ der Praxis führt zu Interesseninkongruenzen und beeinflusst die Interaktionsdynamiken im Kinderschutz. Grenzen im Handeln zwischen Adressat*innen (Kinder, Erziehungsberechtigte) und professionell Tätigen ergeben sich durch die doppelte Funktion von Hilfe und Kontrolle.

Professionelles Handeln im engeren und weiteren Sinne (Hamburger 2016, S. 173)6 im Kinderschutz ist einer Vielzahl von Aushandlungsprozessen und Dilemma unterworfen, wie nachfolgend beschrieben wird:

Hilfe versus Kontrolle, Sozialdisziplinierung versus Befähigung zur autonomen Lebensführung, Dialog und Zwangskontext, Macht und Ohnmacht, Risiko und Vertrauen, Nähe und Distanz, Rückzug und Veränderung – das ist das alltägliche ‚Brot‘ Sozialer Arbeit, ihre Bühne, es sind die ‚Bretter‘, die sie zu bohren und doch taktvoll auszubalancieren hat, will sie gelingen (Böver/Kotthaus 2018, S. 9).

An die Fachkräfte in den Sozialen Diensten werden im Kontext öffentlicher, professionsspezifischer wie auch disziplinärer Debatten hohe Forderungen gestellt, die es jeweils auszutarieren gilt. Dies zeigen auch die Befunde der international ausgerichteten Kinderschutzforschung.

Seit den 1970er sind vielfältige Forschungsschwerpunkte, Publikationen und Praxisprojekte entstanden. Das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Wissen und professioneller Wahrnehmung bzw. Bewertung der Wissensbemühungen und Weiterentwicklung von Wissen ist daher Gegenstand der folgenden Darstellung der Forschungsergebnisse aus dem DFG-Projekt. Die sich nun anschließenden Ausführungen sind wie folgt gegliedert:

  • In Kapitel 1 werden grundlegende Bestimmungen zu den Begriffen Kinderrechte, Kinderschutz, Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung und Kinderwille im Kontext ihrer unterschiedlichen rechtlichen und normativen Konstruktionen diskutiert.
  • Die Anlage und Methodik der Forschung wird in Kapitel 2 vorgestellt, um zentrale Funktions- und Gegenstandbestimmungen wie auch Begründungsfiguren konturieren zu können.
  • Anschließend werden in Kapitel 3 relevante rechtliche und strukturelle Orientierungen im Kinderschutz diskutiert.
  • Kapitel 4 dient der Auseinandersetzung mit internationalen und nationalen Forschungsergebnissen.
  • Der Hauptteil der vorliegenden Publikation (Kapitel 5) widmet sich ausgewählten Positionierungen von pädagogischen Fachkräften des Allgemeinen Sozialen Dienstes und der Kindertageseinrichtungen zu den „Anforderungsprofilen“ im Kinderschutz (v. Spiegel 2013, S. 71). Ihre Situations- und Problemanalysen werden differenziert nach den möglichen Modalitäten bzw. Bedingungen für professionelles Handeln im Kinderschutz in den Fokus genommen. Das hier vorgestellte Datenmaterial konnte durch Interviews und Gruppendiskussionen7 mit ausgewählten Akteur*innen im Kinderschutz gewonnen werden.
  • Die Auswirkungen der „Anforderungsprofile“ (ebd.) an professionelles Handeln im Kinderschutz werden im Kontext der Berücksichtigung von Kinderrechten und Kinderschutz in Kapitel 6 diskutiert und weitere Forschungsbedarfe begründet.
  • Abschließend wird in Kapitel 7 die Wirkung von relevantem Wissen als Schlüsselkomponente und Verständigungskomponente im Kinderschutz entfaltet.

Ein besonderer Fokus lag analog zu den leitenden Fragestellungen im Forschungsprojekt auf der Herausarbeitung der Handlungskompetenzen, mit denen ein „gelingender“ Kinderschutz gestaltet werden kann. Dabei war die Berücksichtigung von Kinderinteressen und -rechten ein wichtiger Bezugspunkt für die Analyse der Interviewergebnisse.

Vor dem Hintergrund der Annahme, dass unterschiedliche Wissensordnungen für die Zusammenarbeit mit Kindern, Erziehungsberechtigten sowie den unterschiedlichen Akteur*innen im Kinderschutz von Relevanz sind, werden widersprüchliche Interessen und Leitbilder des Kinderschutzes kritisch hinterfragt. Im Kontext ausgewählter Positionierungen und leitmotivischer Erfahrungswelten der Akteur*innen im Allgemeinen Sozialen Dienst und Kindertageseinrichtungen werden Perspektiven einer „guten“ kinderschutzbezogenen Arbeit erörtert.

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1 Obwohl zumindest für den deutschsprachigen Raum schon umfassende gesetzliche Rahmungen vorlagen, wie bspw. durch das preußische allgemeine Landrecht (ALR), das badische Landrecht, den französischen Code Civil oder auch das sächsische BGB orientierten sich die Überlegungen zu Kinderrechten eher an den Vorstellungen der allgemeinen Menschenrechte, die im Jahr 1948 durch den Art. 1 dahingehend präzisiert wurden, dass alle Menschen frei, gleich an Würde und Rechten geboren werden (Sachße 2018).

2 Zur kritischen Auseinandersetzung mit der zunehmenden Etablierung von Leitbildern, Normsetzungen und der Kodifizierung staatlicher Interventionen in den Debatten zu Kinderrechten und zum Kinderschutz in westlichen Demokratien (s. Liebel 2007; 2017).

3 Für das Jahr 2019 sind insgesamt 55. 500 Fälle von Kindeswohlgefährdungen bei Kindern und Jugendlichen festgestellt worden (nach §§ 41, 42a SGB VIII) (www.destatis.de). Die Zahlen sind somit auf einem neuen Höchststand. Vielfach sind Kinder unter 8 Jahren betroffen. Sexuelle Gewalttaten gegen Kinder haben deutlich zugenommen und hier insbesondere die Herstellung und der Vertrieb von kinderpornografischem Material (ebd.). Als Begründungen für die deutliche Zunahme von Gewalt werden die Auswirkungen der Gesundheitskrise, eine umfangreichere Berichterstattung sowie Sensibilisierung der Öffentlichkeit und Behörden angeführt (ebd.).

4 Zur Risikovermeidung und zum Umgang mit Fehlern liefert Munro (2019a; Fegert et al. 2008) einen interessanten Überblick, in dem sie unter anderem darauf verweist, dass Entscheidungen im Kinderschutz oft unter einer gewissen Unsicherheit getroffen werden müssen. Häufig geht es – getrieben durch ein modernes Risikomanagement – gerade in schwierigen Fällen im Kinderschutz, auch um die Frage nach Schuld, als „generally choosing between wholly safe or dangerous options“ (Munro 2019a, S. 125). Deshalb braucht es nach Munro (2019a) eine neue Lernkultur, in der aus Fehlern gelernt wird (ebd., S. 126).

5 Der Begriff der Praxis steht für „das Andere“ (das Gegenüber), Praxis ist das, was nicht Theorie ist, das Nachdenken über Praxis und das Sprechen über sie, trennt von der Praxis (Bourdieu 1998, S. 173).

6 Sozialpädagogisches Handeln im engeren Sinne meint Interaktionen mit Adressat*innen im Kontext von Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und im Sozialraum. Dies umfasst Tätigkeiten wie beobachten, beraten, erziehen, bilden, unterstützen, befähigen, planen, dokumentieren, informieren, Problemdefinitionen usw. (Hamburger 2016, S. 173). Gleichfalls wird Handeln in der Sozialen Arbeit eine doppelte Struktur unterstellt, als professionelles (an Wissen zurückgebundenes) und soziales Handeln (ebd.; Schütz 2010; 2011; Elias 1971).

7 Das DFG-Projekt wurde im Zeitraum von 01.02.2017 bis zum 31.10.2019 bearbeitet. Die Gesamtdauer des Projekts betrug 24 Monate.

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Rita Braches-Chyrek: Kindheit zwischen Recht und Schutz: Wissen und Praktiken von Fachkräften im Kinderschutz

Kindheiten. Gesellschaften, Band 5

 

 

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