Geblättert: Weitere Leseprobe aus „Lehren aus dem Ukrainekonflikt“

Lehren aus dem Ukrainekonflikt. Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern

 

herausgegeben von Andreas Heinemann-Grüder, Claudia Crawford und Tim B. Peters

 

Über das Buch

Der Euro-Maidan in der Ukraine, die Annexion der Krim und der von Moskau unterstützte Separatismus im Donbass haben die schärfste Krise der Ost-West-Beziehungen seit 1989/90 ausgelöst. Die Deutung des Ukrainekonfliktes ist umkämpft. Was haben die Akteure gelernt? Die Konfrontation mit Russland gründet in fundamentalen Werte- und Interessenkonflikten, welche die Aussicht auf eine Rückkehr zu vertrauensvollen Beziehungen überschatten. Welche Schlussfolgerungen lassen sich für die Sicherheitspolitik, die Konfliktprävention und das Krisenmanagement ziehen?

Leseprobe aus den Seiten 47 – 51, Beitrag von Igor Gretskiy

 

Triebkräfte russischer Außenpolitik?

 

von Igor Gretsky

 

Im September 2001 reiste Präsident Putin nach Berlin als Oberhaupt eines Staates, der erklärtermaßen das Ziel verfolgte – obgleich unter großen Schwierigkeiten –, sich zu einer Demokratie westlichen Zuschnitts entwickeln zu wollen. In seiner Rede vor dem Bundestag lobte der russische Präsident den unbesiegbaren „Geist der Freiheit und des Humanismus“, den die Jahre der Hitler-Tyrannei in Deutschland nicht hätten auslöschen können und erklärte: „Das Hauptziel der Innenpolitik Russlands ist vor allem die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit, die Verbesserung des Lebensstandards und der Sicherheit des Volkes“ (Putin 2001). Stehend applaudierten die Abgeordneten des Bundestages nach der Rede Putins. Viele beeilten sich sogar, Putinmit einem Händedruck zu begrüßen. Möglicherweise hofften sie, mit dem neuen, jungen Präsidenten würde Russland als Land vorhersehbarer und offener.

Doch alles kam anders. Der „Demokrat und Kenner des Westens“, wie Boris Jelzin seinen Nachfolger charakterisierte (Clinton Digital Library, S. 573-574), begann seine Präsidentschaft mit der Unterdrückung unabhängiger Massenmedien und einer sorgfältigen Säuberung des politischen Raumes von Konkurrenten. In die Außenpolitik Russlands kehrte die für die Sowjetzeit typische anti-westliche Rhetorik zurück, die Konflikte mit Nachbarstaaten verschärften sich. Im Westen wiederum begann man, Russland nach den bewaffneten Konflikten mit Georgien (2008) und der Ukraine (seit 2014) als Quelle von Instabilität und als Bedrohung der europäischen Sicherheit wahrzunehmen. Warum sagte sich Russland vom Dialog mit dem Westen los, warum wählte es ein aggressives Verhaltensmodell in der internationalen Arena, und welche Faktoren begünstigten dies?

Die Außenpolitik Russlands, so meine These, wird maßgeblich durch Wendungen in der Innenpolitik beeinflusst. In den internationalen Beziehungen sind Regierungen bestrebt, ihr eigenes politisches Überleben zu sichern. Eliten verfolgen eine Politik, die ihre Macht stärkt. Das ist besonders bedeutsam für autoritäre und neo-totalitäre Regierungen, wo Wahlen zu einer dekorativen Fassade verkümmern und Machthaber sie regelmäßig nutzen, um die „Liebe“ des ganzen Volkes zum Regenten zu belegen. Jede Macht bedarf der Legitimation, d.h. gewisser Formen der Akzeptanz einer entweder hingenommenen oder aufgezwungenen politischen Wirklichkeit. Diesem Zweck dient häufig ein aggressives und unvorhersehbares Gebaren in den internationalen Beziehungen.

 

Die Gesellschaft: Phobien und Komplexe der älteren Generation

Die tragischen Ereignisse in der Geschichte Russlands des 20. Jahrhunderts – zwei Weltkriege, der Bürgerkrieg 1917-1921, der stalinistische Terror und massenhafte Hungersnöte – haben tiefe Spuren in der demografischen Struktur der Bevölkerung hinterlassen (Karabchuk et al. 2017, S. 45-47). Diese sind besonders sichtbar sind, wenn man auf die Alters- und Geschlechterpyramide Russlands schaut. Auf ihr sind demografische Wellen deutlich erkennbar, die drei Makrogruppen der russischen Bevölkerung hervorgebracht haben.[1]Die erste Gruppe besteht aus der älteren Generation und schließt Bürger ein, die zwischen 1948-1964 geboren wurden – eine Periode, die sich durch den Höhepunkt der Nachkriegsgeburten auszeichnet. Darauf folgte der demografische Knick von Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre – eine Folge der stalinschen Repressionen, des zweiten Weltkriegs und des massenhaften Hungers der Jahre 1946-47. Aber schon in der zweiten Hälfte der 1970er Jahren traten die Babyboomer der Nachkriegszeit ins reproduktive Alter ein und gründeten Familien. So entstand die zweite Makrogruppe der Bevölkerung, die man gleichsam als „mittlere Generation“ bezeichnen kann. Die dritte Makrogruppe, die jüngere Generation, ist die zahlenmäßig kleinste und besteht aus den Kindern, die zwischen 2008-2016 geboren wurden. Aufgrund des jungen Alters ist sie politisch noch nicht aktiv und muss deshalb hier nicht in die Untersuchung einbezogen werden.

Alle Makrogruppen zeigen Besonderheiten im Verhalten und der Weltanschauung, die die Spezifik der Epoche widerspiegeln, in der sie sich formierten. Betrachten wir zum Beispiel die ältere Generation. Der „Eiserne Vorhang“ und das vollkommene Staatsmonopol auf Massenmedien begründete unter den Vertretern dieser Generation eine immanent feindliche Haltung zu den USA und dem Westen insgesamt. Sie beherrschen in der Regel schlechter Fremdsprachen als die jüngere Generation und bevorzugen unter allen zugänglichen Informationsquellen das „vaterländische“ Fernsehen. Gegenwärtig machen jene Leute, die 55 Jahre und älter sind, 48 Prozent der Fernsehzuschauer aus (Federalʹnoe agenstvo po pečati 2020, S. 26). Sie gehören zu jenen, die Informationen aus dem Fernsehen am wenigstens kritisch betrachten (Deloitte 2020, S. 22). Insgesamt haben Vertreter dieser Altersgruppe sich die Errungenschaften des digitalen Zeitalters schlechter angeeignet als andere. Nur 52 Prozent von ihnen nutzen täglich das Internet, und für den Zugang zum Internet nutzen nur 23 Prozent ein Smartphone (Federal`noe agenstvo po pečati 2020, S. 24). Eine Besonderheit dieser Altersgruppe ist die höhere Teilnahme an Wahlen, und zwar dreimal häufiger als die jüngere Generation – eine Gewohnheit, die sich über viele Jahre der Teilnahme an den Pseudowahlen der Sowjetära herausbildete (Volkov 2020).

Mit der Perestroika und dem Zerfall der UdSSR zerbrach für viele der älteren Generation das alte Weltbild. Mit dem Beginn der gorbatschowschen Glasnost und nach langen Jahren der Zensur und Propaganda änderte sich langsam die Haltung der sowjetischen Gesellschaft gegenüber dem Westen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, obschon sie sich nie außerhalb der Grenzen des Landes befunden hatte, verstand natürlich, dass hinter dem „eisernen Vorhang“ das durchschnittliche Einkommen wesentlich höher war als im Land der Sowjets. Grundlage der wachsenden pro-westlichen Stimmungen war der Glaube, dass nach dem Abschied der UdSSR von der ineffektiven Kommandowirtschaft die Konsumstandards sich Europa angleichen würden. Michail Gorbatschow war jedoch nicht in der Lage, die Misswirtschaft zügig zu überwinden. Die Gesellschaft, vom Geist des Unternehmertums jahrzehntelang gesäubert und vom Paternalismus geprägt, konnte sich nicht in kurzer Zeit neu organisieren und die Verantwortung für das Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Vor dem Hintergrund des zunehmenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs hofften viele noch immer ausschließlich auf die Hilfe des Staates, dessen Budget, um öffentliche Aufgaben zu erfüllen, jedoch weiter schrumpfte.

Jene Menschen, die es nicht gewohnt waren, mit ihren Problemen allein fertig zu werden, schauten immer desillusionierter auf die Perestroika. Die Lawine der wirtschaftlichen Not, mit der die gestrigen Erbauer des Kommunismus konfrontiert waren, zerstörte die Hoffnungen auf eine schnelle Erreichung der westlichen Konsumstandards. An ihre Stelle trat Nostalgie nach der „sowjetischen Stabilität“. Auch die gewöhnlich feindselige Haltung gegenüber dem Westen kehrte zurück. Laut einer im März 1991 durchgeführten Umfrage mit mehreren Antworten waren 68 Prozent der Befragten der Ansicht, dass „die UdSSR dem Weg der Industrieländer des Westens folgen solle“,[2] ein Jahr später, im April 1992, waren es nur noch 16 Prozent (Levada 1993, S. 15). Und nur 21,8 Prozent bewerteten eine der Errungenschaften der Perestroika positiv – den Ausbau der wirtschaftlichen Kontakte zum Westen.

Als auch das innere Vertrauen in die eigene Fähigkeit schwand, sich im neuen sozio-ökonomischen Koordinatensystem zurecht zu finden, verflüchtigte sich die Sympathie für den Westen schnell. Zuallererst erfasste die Enttäuschung den gebildeten Teil der älteren Generation von Russen, die einst Gorbatschows Perestroika lebhaft unterstützt hatten, aber unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise den Feind immer häufiger im Westen zu sehen begannen. Ein Mitarbeiter vom soziologischen Umfrageinstitut VTsIOM, Alexei Levinson, erklärte: „Die Wiederbelebung der Angst vor dem Westen, die für unsere Gesellschaft traditionell ist, wurde durch die besonderen Schwierigkeiten bei der Anpassung dieser Personengruppe an die Marktbeziehungen erleichtert.“ (Informacionnyj bjulletenʹ 1994, S. 23-25). Mit anderen Worten, die ältere Generation trat bereits zutiefst enttäuscht, gespalten und vom postimperialen Syndrom betroffen in die neue postsowjetische Ära ein. Die Vergangenheit erschien ihnen im Vergleich zur Gegenwart als ein verlorenes Paradies.

Positive Emotionen in der älteren Generation werden heute durch alles hervorgerufen, was in Wort und Tat darauf abzielt, die sowjetische Realität – obschon unwiderruflich verschwunden – wiederherzustellen, dazu gehören die Wiederbelebung der geopolitischen Konfrontation mit dem Westen, die umfassende Kritik des Kremls an den moralischen Grundlagen der europäischen Länder, die Wahrnehmung der Unabhängigkeit und Souveränität der postsowjetischen Staaten als vorübergehendes Phänomen, Putins Rhetorik zur Bevölkerung der postsowjetischen Länder als ein zusammengehöriges – sprich sowjetisches – Volk. Es ist nicht verwunderlich, dass unter den über 55-jährigen Russen 90 Prozent der Bevölkerung die Annexion der Krim unterstützten, während mehr als ein Drittel der jungen Menschen unter 25 Jahren sich sicher sind, dass dies mehr Schaden als Nutzen angerichtet hat (Jankovskij 2019).

Die mittlere Generation erlebte ihre prägenden Jahre in den 1990er bzw. frühen 2000er Jahren, als Apathie und ein „ideologisches Vakuum“ in der Gesellschaft vorherrschten. In ihrem Wahlverhalten lässt sich diese Kohorte am wenigsten von ideologischen Vorgaben leiten. Vertreter der mittleren Generation erinnern sich praktisch nicht an die UdSSR, sie wissen davon nur aus den begeisterten Geschichten der Großeltern, die an ihrer Erziehung beteiligt waren, während ihre Eltern Geld verdienten. Sie sind mobiler und beherrschen Fremdsprachen meist besser. Sie sind es gewohnt, aus dem Internet und den sozialen Netzwerken zu erfahren, was um sie herum passiert, und sie sehen viel seltener fern als die ältere Generation. Sie haben weitaus mehr Erfahrung mit fremden Kulturen und sind toleranter gegenüber Ausländern und Angehörigen sexueller Minderheiten. Daher ist es schwieriger, die mittlere Generation der Russen mit aggressiver anti-westlicher Rhetorik zu gewinnen.

Wenn die ältere Generation unter dem Einfluss der kommunistischen Ideologie jahrzehntelang bereit war, in eine ferne Zukunft zu schreiten, dann bemüht sich die mittlere Generation, hier und jetzt gut zu leben. Hinzu kommen die Ende der 1970er und 1980er Jahre Geborenen. Sie verlassen sich viel mehr auf ihre eigene Stärke als auf den Staat und arbeiten lieber selbständig. Trotzdem ist der Staat wie in der Sowjetzeit der wichtigste und oft unbestrittene Arbeitgeber und bietet bis zur Hälfte der Arbeitsplätze im Land (Kravčenko 2017).

Unter solchen Bedingungen ist die mittlere Generation bereit, den offiziellen Diskurs zu unterstützen, um beruflich weiterzukommen oder Arbeitsplätze in staatlichen bzw. staatsnahen Strukturen zu erhalten. Die Forderung nach einer aggressiven Außenpolitik kommt hingegen weitgehend von der älteren Generation.

 

[1] Als Makrogruppen werden hier die zahlenmäßig größten Bevölkerungsgruppen bezeichnet, die durch zwei „Gruben“ (Übergänge) voneinander abgegrenzt sind.

[2] Nezavisimaja Gazeta 12.03.1991.

 

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Andreas Heinemann-Grüder, Claudia Crawford und Tim B. Peters (Hrsg.):

Lehren aus dem Ukrainekonflikt. Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern