„Kinderschutz in der Demokratie – Eckpfeiler guter Fachpraxis“: Leseprobe

Zwei Mädchen gärtnern

Kinderschutz in der Demokratie – Eckpfeiler guter Fachpraxis. Ein Handbuch

von Kira Gedik und Reinhart Wolff

 

Über das Buch

Gegenwärtig werden verstärkt tödliche Fälle von Kindesmisshandlung medial aufgegriffen und sensationsheischend aufbereitet. Hierbei kommt es oft zu Engführungen und Einseitigkeit. Im Handbuch setzen die Autor*innen neu an und fragen: Vor welchen Herausforderungen stehen wir aktuell in der Kinderschutzarbeit? Sie entfalten ein Konzept nachhaltiger demokratischer Kinderschutzarbeit auf Basis eines neuen Grundverständnisses und eines umfassenden Konzepts der Prozessgestaltung für eine solidarische Kooperation der beteiligten Akteur*innen.

Leseprobe: S. 89-94

 

Überlegungen zur Akteursproblematik im Kinderschutz

Kira Gedik & Reinhart Wolff

Wenn man über Kinderschutz in der Demokratie nachdenkt, dann eröffnet sich sogleich die Frage, um wen es im Kinderschutz eigentlich geht und wer daran beteiligt ist? In der Fachpraxis, in der wissenschaftlichen Erörterung und im öffentlichen Diskurs wird auf diese Frage gerne geantwortet, das sei doch selbstverständlich: Es gehe um Kinder! Das ist allerdings eine Fehleinschätzung, denn in allen modernen Kinderschutzsystemen spielt eine doppelte Verkürzung eine Rolle: Weder sind nämlich andere Beteiligte – wie z. B. Eltern und Familien, Kinderschutzfachkräfte und Kinderschutzorganisationen – achtsam im Blick, um die es in diesem Kapitel geht, noch ist klar, wie Kinder und andere Akteure als in Kinderschutzprozessen Beteiligte und in ihren jeweiligen Beziehungen, (Entwicklungs-)Bedürfnissen und Rollen überhaupt verstanden werden. Im Vordergrund stehen zumeist zweipolige Verstehenskonzepte von Subjekten und Objekten, von Erwachsenen und Minderjährigen (Kindern und Jugendlichen), von Bürgern und Fachleuten, von Handelnden und Behandelten und vor allem – in strafrechtlich orientierten Diskursen – von Tätern und Opfern. Eine solche enggeführte Sicht führt nicht nur zu einer Dekontextualisierung von lebensgeschichtlichen Entwicklungen und institutionellen Kontexten, sondern sie bildet auch die entstandenen oder aktuellen Konfliktbeziehungen, die zu Misshandlungen und Vernachlässigungen von Kindern und Jugendlichen geführt haben, immer wieder nur als einseitige Beziehungsund Ungleichheitsverhältnisse ab, ohne ein Verständnis zu eröffnen, wie Machtverhältnisse in Generationenbeziehungen, in Erziehungsverhältnissen und in professionellen Hilfebeziehungen entstehen und agiert werden, vor allem jedoch: wie sie wahrgenommen, verstanden, thematisiert und produktiv umgestaltet werden können, mit aufmerksamem Blick auf die Bedürfnisse und Rechte, die Verantwortungen und Pflichten und nicht zuletzt auf die Handlungskräfte und Handlungsbefähigungen aller Prozessbeteiligten (zur Frage der Macht mit Blick auf Kinder z. B.: Liebel 2020).

Dabei hat sich, wie wir bereits Anfang der 1990er Jahre kritisch formulierten (vgl. Wolff 1991: 38f.), im Kinderschutzdiskurs eine Tendenz ergeben, alles in der Lebens- und Sozialgeschichte immer wieder nur auf bloßes Erleben und dramatischer noch auf „Trauma“ zu attribuieren und weniger auf das vernetzte konfliktreiche Handeln der jeweiligen Prozessbeteiligten. Michael Buchholz hat das hier wirksame „implizite Täter-Opfer-Schema“ in seinen dekontextualisierenden Konsequenzen für den Beratungs- wie für den Supervisionsdialog kritisch herausgearbeitet. Er formuliert:

1- Der Klient erscheint nicht als ‚Problembesitzer‘ (R. WOLFF 1987) – aber Beratungsdialoge sind nur möglich, wenn der Klient oder der Supervisand sich als Problembesitzer sehen kann oder wenn er lernen kann, sich als solcher zu sehen. Jemanden, der selbst kein Problem hat, können wir nicht beraten – es sei denn, es gelingt wenigstens zu verdeutlichen, dass er ein Problem damit hat, mit den Problemen, die andere ihm bereiten, fertig zu werden.

2- Eine zweite Konsequenz kann man sehen, wenn man eine kommunikationstheoretische Unterscheidung macht, die LUHMANN (1984) in seiner Analyse sozialer Systeme vorschlägt. In der Kommunikation – und Beratungsdialoge sind kommunikative Vorgänge – haben wir die Möglichkeit auf „Erleben“ oder auf „Handeln“ zuzurechnen. Spricht jemand von seinem Erleben, attribuiert er die Quelle des Erlebens außerhalb von sich selbst, er reagiert erlebend auf etwas. Spricht jemand dagegen von seinen Handlungen, dann sieht er sich selbst als Zentrum eigener Initiative, und damit attribuiert er die Quelle seines Erlebens „intern“. (…)

Solange wir uns selbst mit dem Klienten als Opfer identifizieren, rechnen wir in der Kommunikation alles, was er sagt, seinem „Erleben“ zu: Wir vollziehen nach, was ihm angetan wird und wie er das erlebt. Das ist oft ein notwendiger und empathisch wichtiger Schritt. Erfolgt die kommunikative Zurechnung allerdings ausschließlich aufs Erleben, … hat sie einen fatalen, wenn auch unbeabsichtigten Effekt: sie anonymisiert den Klienten oder die Klientin. Implizit folgt eine solche Zurechnung der Logik, dass wir zu verstehen meinen, dass jeder, der in einer solchen Lage wäre wie der Klient, auch wie der Klient reagieren müsste – und damit wird der Klient als individuelles Subjekt aus dem Beratungsdialog eskamotiert. Erst wenn es gelingt, nicht auf Erleben, sondern auf Handeln zuzurechnen, bekommen wir einen Klienten oder eine Klientin als Subjekt, das handelnd entscheidet und damit individuellen Präferenzen Ausdruck verleiht, in den Blick. Wenn wir im Dialog auf Handeln zurechnen können, wenn wir sehen, dass ein Klient im Dialog handelt und uns (manchmal ja auch recht schlecht) behandelt, dann sehen wir ihn als Subjekt, das nicht nur passiv erleidet, sondern wir können seine Handlungen als „Dokumente“ (im Sinne der Ethnomethodologie) individueller Subjektivität verstehen und damit ist eine Chance gegeben, im Supervisionsprozeß [und wir können ergänzen: nicht nur dort. KG/ RW] die institutionellen Dekontextualisierungen rückgängig zu machen. Damit meine ich auch die, die durch den Berater oder durch den Supervisor selbst mit erzeugt werden (Buchholz 1993: 135–137).

Offenbar fällt es Fachkräften in der Sozialen Arbeit, im Gesundheits- und Bildungswesen und insbesondere im Polizei- und Justizsystem schwer, dekontextualisiernde und polarisierende Sichtweisen aufzugeben. Sie halten an einseitigen Subjekt-Objektrollenkonzepten fest, die in der Redeweise von den zu behandelnden Adressatinnen und Adressaten als ,wahrlich‘ erfasste Hilfebedürftige deutlich werden. Dabei geht es stets um eine Wahrnehmungsleistung und eine Wahrheitskonstruktion, um ein Erfassen und Verstehen von Menschen in besonderen Lebensphasen und (Not-)Situationen und grundsätzlich: um das Balancieren von „Solidarität und Objektivität“ (vgl. Rorty 1988: 82ff.). Fachleuten, die an debalancierenden und polarisierenden Sichtweisen festhalten, misslingt auf diese Weise konzeptuell, Menschen, denen sie als Fachkräfte begegnen, als selbstverantwortliche Akteure in ihrer Handlungsautonomie zu verstehen und zu stärken. Sie verfehlen dann oft, in Konflikte geratenen Menschen in Hilfeprozessen beraterisch eine Brücke zu bauen, ihr Erleben auch als eine selbst hervorgebrachte Wahrnehmungsleistung und damit als Handlungspraxis anzuerkennen, so dass sie es schaffen – wie die bekannte Psychotherapeutin Verena Kast rät – Abschied von der Opferrolle (und Objektrolle) zu nehmen und das eigene Leben zu leben (vgl. Kast 2019).

Nicht zuletzt im Zuge der Veränderungen, die sich im Kontext des Um- und Abbaus des Sozialstaats mit der um sich greifenden Propagierung der sogenannten Neuen Steuerung öffentlicher Dienstleistungen (New Public Management) im Kontext wachsender Unsicherheit und Ungleichheit in den globalisierten hyperkapitalistischen Gesellschaften ergeben haben, werden nun seit den 1990er Jahren im professionellen Diskurs in wachsendem Maße erwachsene und insbesondere minderjährige Bürgerinnen und Bürger als Adressatinnen und Adressaten professioneller Leistungspraxis und insofern im Wesentlichen in inszenierten Objektrollen gesehen. So heißt es in einem neueren Lehrbuch zu Adressaten und Adressatinnen als spezifische ‚Sozialfigur‘ in der Sozialen Arbeit: „Immer mehr Menschen werden in einem immer mehr ausdifferenzierten Leistungsspektrum von Sozialer Arbeit ‚adressiert‘, werden zu deren Adressat_innen.“ (Bitzan/Bolay 2017: 7) und es wird weiter ausgeführt:

Soziale Arbeit handelt in der ambivalenten Doppelbestimmung von Hilfe und Kontrolle. Dennoch ist Soziale Arbeit in gewissem Maße eigenständige Akteurin, kann sich reflexiv gegenüber solchen Vorgaben verhalten und sich kritisch mit widersprüchlichen Herausforderungen auseinandersetzen.

Nun wird deutlich, dass soziale (Hilfe-)Bedarfe nicht einfach ‚an sich‘ auftreten oder nur durch individuell motivierte Verhaltensweisen der Menschen hervorgerufen werden. Vielmehr sind diese immer auf gesellschaftliche Übereinkünfte des Erwarteten, des ‚Normalen‘ bezogen. Somit werden Personen(gruppen) in der Sozialen Arbeit adressiert, die subjektiv Hilfe und Unterstützung brauchen, aber auch Personen(gruppen), die sich selbst vielleicht nicht als bedürftig betrachtet hätten. Andererseits aber werden Personen, die subjektiv zwar Unterstützungsbedarf empfinden, nicht adressiert, sofern dieser Bedarf nicht bereits in irgendeiner Form als sozialpolitisch relevant definiert wurde (a. a. O.: 8).

Obwohl diese Autoren sich in ihrer Begriffskonturierung immerhin – wie sie herausstellen – um eine relationale Sichtweise bemühen, „die systematisch die eigenen Deutungsmuster und Erlebensweisen der Adressierten beachtet und zugleich das Bedingungsgefüge zwischen institutionellem Zugriff und professionellen Interpretationen mitdenkt“ (a. a. O.: 11) und dabei betonen, dass sie „Überlegungen zur Frage der subjektiven Handlungsfähigkeit“ ausbuchstabieren wollen und auch an der „Stimme der Adressat_innen“ (a. a. O.: 12) und an einer „Dekonstruktion der unreflektierten Selbstgewissheit mancher professioneller Routinen und Verfahrensweisen“ (a. a. O.: 12f.) interessiert sind, bleiben sie zumeist (wie auch andere Beiträge zur Adressatenfigur als professionelle Leitorientierung, z. B.: Bitzan/Bolay/Thiersch 2006; Böllert 2011; Watzlawik 2011; Graßhoff 2013; Hansen 2013; Graßhoff 2015; Bitzan/ Bolay 2018 und Böllert/Burghard 2020) häufig in einer gouvernemental-institutionellen und fachlichen Schiefsicht auf die in professioneller Praxis beteiligten Personen(gruppen) stecken. Sie verfehlen auf diese Weise eine kritische Infragestellung der sich im Terrain moderner sozialer Praxen immer wieder herstellenden Machtungleichgewichte und autoritären Zugriffe auf Menschen in Konflikten und Notlagen, die Hilfe und Unterstützung brauchen, auch wenn sie diese nicht immer selbst suchen und einfordern.

In diesem Handbuch folgen wir stattdessen einer anderen konzeptuellen Ausrichtung, die Homfeldt, Schröer und Schweppe bereits 2008 vorgeschlagen haben: „Vom Adressaten zum Akteur. Soziale Arbeit und Agency“. Dabei betonen sie, dass es im Kern um „eine alte systematische Frage der Sozialen Arbeit“ geht: „Wie werden die Menschen in der Theorie Sozialer Arbeit als Akteure ihrer sozialen Umwelt betrachtet?“ (Homfeldt/Schröer/Schweppe 2008: 7). Sie beklagen zurecht: „Nur schwer kann der Begriff des Adressaten den Drang zur Zielgruppendefinition bzw. Zielperson abschütteln, um diese bestenfalls in Bezug auf ihre Ressourcenausstattung und deren Auswirkung auf das Wohlergehen zu befragen oder andernfalls im klinischen Blick den Zielpersonen diagnostizierte Defizite zuzuschreiben, die es auszugleichen gilt“ (ebd.).

Das Agency-/Akteurs-Konzept ist eine theoretische Orientierung, die von wichtigen evolutions- und sozialanthropologischen, entwicklungspsychologischen und sozialarbeitswissenschaftlichen Forschungen vor allem aber von der modernen soziologischen Kindheitsforschung mit ihrer Betonung von „agency“ gestützt wird. „Agency“ wird hier verstanden als soziale (d. h. in Strukturen eingebettete) Handlungsmächtigkeit von Akteuren, als „eine sich verwirklichende Befähigung von Menschen, mit ihrer Umwelt aktiv umzugehen und nicht allein darüber Bescheid zu wissen und ihr eine persönliche interaktive Bedeutung zuzuschreiben“ (Holland et al. 1998: 42, unsere Übersetzung KG/RW; vgl. auch: Raithelhuber 2008: 17–45; Wihstutz 2014: 247–262).

Anthropologisch schließt das Agency-/Akteurskonzept an eine seit Längerem geführte Diskussion an, die sich mit der Zentralthese der konservativen philosophischen Anthropologie vor allem Arnold Gehlen’s vom Menschen als einem „Mängelwesen“ (Gehlen 1995)1 kritisch auseinandergesetzt hat. So hat vor allem der soziologische Anthropologe Dieter Claessens herausgestellt, dass die Menschen keine Mängelwesen sind, sondern gehirnspezialisierte Wesen, die bereits in den Frühkulturen als Akteure gelernt haben, Kindern und Eltern – und natürlich insbesondere Müttern – durch Gestaltung von Gruppenzusammenhängen zur „Insulation gegen selektive Pression“ (nach Hugh Miller 1964) zu helfen und sie zu schützen. Und da sie am Lebensanfang und auf Jahre hin nicht fertig sind, brauchen und schaffen sie phylo- und ontogenetisch prä-, peri- und postnatal fördernde, sowie unterstützende und auch schützende, i. d. R. familiale Entwicklungsräume und ermöglichen dergestalt aktiv die sog. „zweite sozio-kulturelle Geburt“ (Claessens 1972: 79ff; s. auch: mit sozialisationstheoretischem Bezug: Claessens 1973), um überleben und aufwachsen zu können. Die Grundlage dafür ist, dass die Menschen – und das heißt auch die Kinder – von Anfang an auch Altruisten sind, wie moderne evolutionsanthropologische Forschungen (vgl. Tomasello 2009; Tomasello 2010; Tomasello 2020) überzeugend gezeigt haben. Kinder sind aktive Kooperationspartner, die Hilfe brauchen und nutzen, aber auch selbst kooperativ handeln und spontan hilfsbereit sind. Jedenfalls sind sie dazu bereits im Laufe des ersten Lebensjahres in der Lage. Darum kann man sagen: Sie sind „zum Helfen geboren (und erzogen)“ (Tomasello 2010: 19, vgl. auch Honig 1999: 157 und etwas stärker entwicklungspsychologisch Hurrelmann/Bründel 2003: 7). Oder wie Claessens prägnant formuliert, indem er die grundsätzlichen Ambivalenzen balancierend aufgreift, die hierbei eine Rolle spielen:

Der menschliche Säugling ist also ein prinzipiell aktionsfähiges oder besser: aktionsbereites Wesen, das trotzdem Nesthocker ist.

Der Schluß liegt nahe, daß der Mensch zu Beginn seines Lebens deshalb „Nesthocker“ ist, weil er einer besonderen Art von Pflege bedarf, um seine bereitliegende „Menschlichkeit“ zu realisieren. Seine prinzipielle Aktionsbereitschaft stellt sich als Wartezustand dar, sie kann nur in Aktion umgesetzt werden durch Aktion und zwar durch Aktion anderer Menschen. Die besondere Pflege des „sekundären Nesthockers“ muß also in Aktionen bestehen, die, auf seine Aktionsbereitschaft treffend, zu „Interaktionen“ werden, ihn zu eigenen Aktionen bringen und damit erst „zu sich“, „zu der Welt“ kommen lassen. Logisch müssen Anzahl und Intensität der nötigen katalysatorischen Aktionen der Aktionsbereitschaft, Sinnesoffenheit und Differenziertheit des Säuglings und später Kleinkindes entsprechen (Claessens 1970: 84).

Handlungskontexte und Handlungssituationen und die hier in sozialen Netzen miteinander kommunizierenden Akteure bilden, wie die moderne Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) (vgl. Latour 2005) herausgearbeitet hat, einen Zusammenhang. Das ist auch in den von der Kindheitssoziologie entwickelten Agency-Theorien wichtig. Sie „haben Agency gerahmt und als etwas bestimmt, das Ergebnis einer Handlung ist, eingebettet in gesellschaftlich geformte Interaktionen und daher der Dynamik zwischen Individuen (zu)gehörig: Machtbeziehungen sind relevant für die Situation, wie auch Ressourcen, die von unterschiedlichen Akteuren im Verlauf einer Interaktion mobilisiert werden können“ (Moran Ellis 2014: 176).

Leitend für uns sind die hieran anknüpfenden Überlegungen, dass Kinderschutz von Anfang an eine Interaktion ist, an der mehrere Akteure beteiligt sind: Säuglinge und Kleinkinder, Kinder und dann Jugendliche, sodann die Eltern als jeweils besondere Persönlichkeiten und als Paar, die Familie sowie professionelle Fachkräfte und ihre Organisationen in jeweils unterschiedlichen Rollen, mit besonderen Interessen und (Entwicklungs-)Bedürfnissen, Rechten und Pflichten sowie insbesondere mit jeweils besonderen Verantwortungen im jeweiligen Kontext.

Als eine interaktiv gestaltete Wahrnehmungsleistung und Praxis verstanden, ist Kinderschutz sowohl ein kollektives als auch subjektives Aktionsgeschehen. D. h. jedweder Akteur leistet diese Praxis selbst, entwickelt sie mit, beurteilt sie, entwirft sie und erfindet sie manchmal auch neu. Dabei bilden die jeweiligen Akteure miteinander Umwelten in der gemeinsamen Wahrnehmung und Praxis im Kinderschutz. Als eine mehrseitige Interaktion verstanden, spielt jeder Akteur eine besondere Rolle und übernimmt konkrete Aufgaben, beteiligt sich. So gesehen ist Kinderschutz von den Akteuren gestaltbar und veränderbar. Dabei ist von besonderer Bedeutung, was ein Akteur mit einem anderen Akteur in der interaktiven Handlung, in der jeweiligen Relation zueinander ins Werk setzt, wie sie einander im Kontakt, in ihrer Kommunikation und in ihren Problemkonstruktionen gegenseitig beeinflussen, und was sie leitet in ihren konstruktiven und ggf. auch destruktiven Handlungsweisen unter besonderer Berücksichtigung von Machtbeziehungen und Machtverhältnissen im Generationenverhältnis und im sozialen Raum.

Kinder und Jugendliche, aber auch Eltern und Familien können so gesehen grundsätzlich als Kooperationspartner gefasst werden im Gesellschaftsprojekt ‚Kinderschutz‘, wo sich Bürgerinnen und Bürger und Professionelle begegnen zu gegenseitiger Unterstützung, Entwicklungsförderung und Schutz. Dass Fachkräfte und professionelle Organisationen im modernen Kinderschutz ebenfalls als gesellschaftliche Partner, Unterstützer, Förderer und Schützer eine Rolle spielen können, liegt allerdings nicht einfach auf der Hand. Zurecht fragt Helmut Plessner nach den „Grenzen der Gemeinschaft“ (Plessner 2002). Kooperative Zusammenhänge von Menschen stellen sich nicht einfach her. Sie müssen gewollt und gelebt werden. Darum fragen wir konkret nach und interessieren uns für die Möglichkeiten und Grenzen gegenseitiger Partnerschaft und Beteiligung der jeweiligen Akteure in der demokratischen Kinderschutzpraxis. Darum wollen wir sie als solche, nämlich als jeweils besondere Akteure in diesem Handbuch näher in Betracht ziehen.

Wir stellen im Folgenden bewusst die Kinder als Akteure voran, nehmen dann die Familien und Eltern in den Blick, um anschließend die Fachkräfte und die Organisationen als Akteure im Kinderschutz jeweils genauer in Betracht zu ziehen.

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1 So hat Gehlen zwar einerseits betont, dass der Mensch ein handelndes, aber andererseits überhaupt ein unfertiges, nicht festgestelltes Wesen sei und dass es deswegen notwendig sei, ihm mit „Zucht“ zu begegnen, nämlich mit „Selbstzucht, Erziehung, Züchtung als In-Form-Kommen und In-Form-Bleiben … Morphologisch ist nämlich der Mensch im Gegensatz zu allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel bestimmt, die jeweils im exakt biologischen Sinne als Unangepaßtheiten, Unspezialisiertheiten, als Primitivismen, d. h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: also wesentlich negativ“ (Gehlen 1995: 30f.).

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© Unsplash 2022 / Foto: Mieke Campbell