Unterschiede zwischen Frühstudierenden der Gymnasien G8 und G9

ZeHf – Zeitschrift für empirische Hochschulforschung 1-2021: Schulzeitverkürzung und Begabtenförderung: Wie unterscheiden sich Würzburger Frühstudierende im acht- (G8) und neunjährigen (G9) Gymnasium?

Schulzeitverkürzung und Begabtenförderung: Wie unterscheiden sich Würzburger Frühstudierende im acht- (G8) und neunjährigen (G9) Gymnasium?

Sandra Schmiedeler, Lorena Fleischmann, Richard Greiner, Tobias Richter, Wolfgang Schneider

ZeHf – Zeitschrift für empirische Hochschulforschung, Heft 1-2021, S. 4-19.

 

Zusammenfassung: Die Frage, wie sich die Schulzeitverkürzung auf Programme der außerschulischen Begabtenförderung auswirkt, ist bislang wenig beachtet worden. Wir untersuchten, ob sich die Würzburger Frühstudierenden des achtjährigen Gymnasiums (G8) von denen des neunjährigen Gymnasiums (G9) unterscheiden. Hierzu wurden Teilnehmende der G8-Kohorte (N = 377) mit denen der G9-Kohorte (N = 201) hinsichtlich demografischer Variablen, Kriterien im Auswahlverfahren und im Frühstudienverlauf verglichen. In der G9-Kohorte gab es mehr männliche Teilnehmer am Frühstudium, während das Geschlechtsverhältnis in der G8-Kohorte annähernd ausgeglichen war. Das Alter sowie die Klassenstufe bei der Bewerbung lagen in der G8-Kohorte erwartungsgemäß niedriger. Während sich keine Gruppenunterschiede in der Intelligenz zeigten, zeichnete sich die G8-Kohorte durch einen besseren Notendurchschnitt aus. Dagegen wies die G9-Kohorte eine längere (Anzahl der Semester) und umfangreichere (Anzahl der Veranstaltungen) Teilnahme sowie eine höhere Anzahl an Leistungsnachweisen auf. Es scheint, dass die G9-Kohorte mehr Ressourcen für ein Frühstudium aufbringen konnte als die G8-Kohorte.

Schlüsselwörter: Frühstudium, Begabtenförderung, G8 und G9, besondere Begabung, Hochleistung

 

Reduction in school time and gifted education: How do Würzburg’s junior students in the eight- (G8) and nine-year (G9) secondary school (Gymnasium) differ?

Summary: The question whether shortening secondary school duration impacts gifted education programs is not well documented yet. We explored how junior students attending the eight-year version of the Bavarian Gymnasium (G8) differed from those attending the previous nine-year Gymnasium version (G9). Participants of the G8-cohort (N = 377) were compared to those of the G9-cohort (N = 201) regarding demographic variables as well as criteria from the selection process and from the junior study program. In the G9-cohort, more male students participated, whereas the ratio of males and females in the G9-cohort was almost balanced. As expected, participants’ age and grade level at the time of admission were significantly lower in the G8-cohort than in the G9-cohort. Whereas the cohorts did not differ in terms of intellectual ability, the G8-cohort demonstrated better school grades than the G9-cohort. Junior students in the G9 participated significantly longer (number of semesters), more extensively (number of courses), and earned more credits than the G8-cohort. Apparently, the G9-cohort was able to raise more resources for their junior studies than the G8-cohort.

Keywords: early study program, gifted education, G8 and G9, giftedness, high performance

 

1 Einleitung

Etwa 3% bis 5% der Schülerinnen und Schüler sind aufgrund ihrer Begabung oder ihrer besonderen Leistungsbereitschaft in der Schule unterfordert (Deutsche Telekom Stiftung, 2011). Für diese Schülerinnen und Schüler ist eine Begabtenförderung jenseits der schulischen Angebote, wie das Frühstudium sie bietet, hilfreich. Die grundlegende Idee des Programms besteht darin, dass besonders begabte bzw. leistungsstarke Jugendliche die Möglichkeit erhalten, bereits vor Abschluss ihrer Hochschulreife ein Studienfach zu studieren. Dadurch wird ihnen zum einen ermöglicht, ihr vorhandenes Wissen in einem spezifischen Bereich zu vertiefen (Enrichment) und Langeweile imUnterricht vorzubeugen. Zum anderen kann der Verlauf des eigenen Studiums gegebenenfalls verkürzt werden (Akzeleration), denn mit Ausnahme der zulassungsbeschränkten Fächer können im Frühstudium Leistungsnachweise erworben und für ein späteres Regelstudium anerkannt werden. Aus Sicht der Hochschulen bietet das Frühstudium die Chance, besonders begabte und talentierte Jugendliche bereits früh an die eigene Institution zu binden (Deutsche Telekom Stiftung, 2011). Insbesondere in den MINT-Fächern kann somit einem möglichen Nachwuchsmangel entgegengewirkt werden. Oftmals sind die Universitäten sehr engagiert, Frühstudierende an die eigene Hochschule zu holen. Dies zeigt sich auch in der hohen Anzahl von mittlerweile 64 teilnehmenden Universitäten in Deutschland (Deutsche Telekom Stiftung, 2018) und etwa 2,000 Frühstudierenden pro Semester (Wolba, 2019). Dabei fällt auf, dass die durchschnittliche Anzahl an Frühstudierenden pro Hochschule in den letzten Jahren zurückgegangen ist: Während die Universitäten bei einer Befragung im Wintersemester 2012/2013 noch durchschnittlich 43 Schülerinnen und Schüler pro Semester zählten, waren es im Sommersemester 2018 nur noch knapp 36 Teilnehmende (Deutsche Telekom Stiftung, 2012/2013, 2018). Eine mögliche Ursache für den Rückgang wird in der Schulzeitverkürzung auf das achtjährige Gymnasium (G8) gesehen (Deutsche Telekom Stiftung, 2018). Durch die G8-Reform wurde die Schulzeit um ein Jahr reduziert und gleichzeitig die wöchentliche Unterrichtszeit erhöht. Inwiefern durch die Schulzeitverkürzung die Teilnahme an außerschulischen Fördermaßnahmen – wie dem Frühstudium – beeinflusst wird, ist bislang wenig beleuchtet worden. Es scheint sich jedoch für das Frühstudium abzuzeichnen, dass eine Teilnahme für die Schülerinnen und Schüler im G8 durch den erhöhten schulischen Arbeits- und Lernaufwand schwieriger umsetzbar ist. Daher widmet sich dieser Beitrag der Frage, ob sich die Frühstudierenden im G8 (erster Abiturjahrgang in Bayern 2011) hinsichtlich demografischer Variablen, Kriterien im Auswahlverfahren sowie im Frühstudienverlauf von den Teilnehmenden unterscheiden, die noch in neun Jahren das Gymnasium absolviert haben (G9).

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Auswirkung der Schulzeitverkürzung

Die Umstellung der Gymnasialschulzeit auf acht Jahre in fast allen Bundesländern war eine der bedeutendsten Reformen unserer Schulstruktur seit der Wiedervereinigung, und kaum eine Reform wurde so kontrovers diskutiert (Köller, 2017). Demnach absolvieren Schülerinnen und Schüler bereits nach 12 Jahren und nicht mehr nach 13 Jahren wie beim neunjährigen Gymnasium das Abitur1. Die Reform erfolgte in den Bundesländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten zwischen 2001 und 2008, wobei in Bayern das G8 im Jahr 2004 eingeführt wurde (für eine Übersicht s. Kühn, 2014; Köller, 2017). Ziel dieser Reform war vor allem, das im weltweiten Vergleich durchschnittlich hohe Eintrittsalter der Erwerbstätigkeit von Akademikerinnen und Akademikern in Deutschland zu senken (Thomsen, 2015). Gleichzeitig wurde der Lehrplan gestrafft und die wöchentliche Unterrichtszeit im G8 erhöht. Aufgrund der Kritik am G8, die primär in einer zu hohen Arbeitsbelastung bei den Jugendlichen gesehen wurde, sind inzwischen fast alle Bundesländer teilweise oder vollständig wieder zum G9 zurückgekehrt bzw. G8 und G9 bestehen parallel (vgl. Huebener & Marcus, 2015; Köller, 2017; Kühn, 2014). Die Wiedereinführung des G9 erfolgte seit 2011 in den einzelnen Bundesländern wiederum zu unterschiedlichen Zeitpunkten. In Bayern wurde ab dem Schuljahr 2018/2019 die Rückkehr zum neuen G9 beschlossen (Bayerischer Landtag, 2017).

Interessant dabei ist allerdings, dass die Gesamtschau an empirischen Studien keine oder lediglich geringe negative Auswirkungen der G8-Reform auf Lernleistungen, Studienvorbereitung, Belastungserleben und Freizeitverhalten der Schülerinnen und Schüler zeigt (siehe auch die Expertise der Mercator-Stiftung von Köller, 2017). So wurde zunächst befürchtet, dass die Schulzeitverkürzung zu einem Leistungsabfall bei den Abiturientinnen und Abiturienten und somit zu einer geringeren Qualifikation fürs Studium führen könnte. Jedoch ist in der Mehrzahl der Studien kein substanzieller Unterschied zwischen Schülerinnen und Schülern mit 12 versus 13 Jahren Schullaufzeit zu erkennen. Laut der TIMSS-Studie (Trends in International Mathematics and Science Study) fielen die Schulleistungen und Durchschnittsnoten im Abitur in einem bundesweiten Vergleich nach einem 12-jährigen Schulbesuch ähnlich aus wie nach einer 13-jährigen Schullaufbahn (Baumert & Watermann, 2000). Auch Hübner, Wagner, Kramer, Nagengast und Trautwein (2017) fanden keine signifikanten Leistungsunterschiede zwischen beiden Schulformen in Mathematik und Physik. In Biologie zeigte sich ein signifikanter, aber sehr kleiner Gruppenunterschied zugunsten der G9-Schülerinnen und Schüler. Lediglich in Englisch schnitt die G9-Kohorte substanziell besser ab, wobei die Autoren dies auch auf das höhere Alter sowie das außerschulische Lernen und nicht unbedingt auf die G8-Reform zurückführten.

Weiterhin lassen auch die Studieneingangsvoraussetzungen keine substanziellen Unterschiede zwischen beiden Schulformen erkennen (Kühn, 2014). In ihrer Untersuchung zum Vergleich der fachlichen, methodischen und personalen Studieneingangsvoraussetzungen von G8- und G9-Absolventinnen und -Absolventen eines doppelten Abiturjahrgangs (12 vs. 13 Jahre Schulzeit) fand Kühn (2014), dass sich die Gruppen in der großen Mehrheit der erfassten Konstrukte nicht voneinander unterschieden. Lediglich bei einzelnen Variablen, wie dem Fachinteresse oder der Informiertheit vor Studienaufnahme, zeigten die Absolventinnen und Absolventen im G9 etwas höhere Werte als die im G8, wobei die Effektstärken sehr gering und somit kaum von praktischer Relevanz waren. Kühn (2014) schlussfolgerte, dass die Befürchtung, die G8-Abiturientinnen und ‐Abiturienten seien schlechter auf das Studium vorbereitet als die des G9, nicht zutreffe.

Weitere befürchtete Nachteile der G8-Reform waren, dass weniger Zeit für außerschulische Programme wie z. B. Schülerwettbewerbe bliebe. Schülerwettbewerbe sind zentrale Enrichment-Angebote zur individuellen Förderung von Hochbegabten und Hochleistenden. Entgegen dieser Befürchtungen fanden sich jedoch steigende Teilnehmerzahlen beispielsweise in „Jugend forscht“ seit 2000 und den Naturwissenschaftsolympiaden seit 2005, auch wenn die Zahlen in den Bundesländern schwanken (Köller, 2017). Demnach kann nicht von einem Einbruch in den Teilnehmerzahlen an Schülerwettbewerben durch die Einführung des G8 ausgegangen werden. Ob sich die Teilnehmenden im G8 jedoch von denen des G9 unterscheiden, ist unseres Wissens nicht bekannt. Allerdings berichten die Schülerinnen und Schüler der G8-Kohorte, etwas weniger Zeit für außerschulische Freizeitaktivitäten zu haben, was an der höheren Wochenstundenzahl in der Schule zu liegen scheint (Hübner et al., 2017). Gleichzeitig hat das G8 keine Auswirkungen auf das Engagement in Sportvereinen (Köller, 2017). Mit Blick auf das psychische Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler sind die Befunde nicht eindeutig, wobei die meisten Studien keine substanziellen Unterschiede zwischen den Kohorten finden; in wenigen Fällen weist allerdings die G8-Kohorte ein etwas erhöhtes Belastungserleben auf (vgl. Köller, 2017).

Insgesamt geht aus den Befunden hervor, dass sich die G8- und G9-Kohorten in vielen für das Lernen und den Lernerfolg zentralen Indikatoren kaum oder gar nicht voneinander unterscheiden. Allerdings fehlen bislang Studien, die Unterschiede zwischen den G8- und G9-Schülerinnen und -Schülern in Bezug auf die außerschulische Begabtenförderung untersucht haben, zu denen das Frühstudium zählt.

1 Dabei waren Sachsen und Thüringen von dieser Reform nicht betroffen, da hier bereits die 12-jährige Schullaufbahn bestand. In Rheinland-Pfalz wurde die 12.5 Jahre umfassende Schulzeit mit Ausnahme von G8-Ganztagsschulen beibehalten.

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