Impfdiplomatie aus Solidariät oder Interessenpolitik?

Impfdiplomatie als Ausdruck globaler Solidarität? Internationale Kooperation in der Pandemiebekämpfung zwischen Egoismus und Gerechtigkeit 164 (3-2021): Impfdiplomatie als Ausdruck globaler Solidarität? Internationale Kooperation in der Pandemiebekämpfung zwischen Egoismus und Gerechtigkeit

Impfdiplomatie als Ausdruck globaler Solidarität? Internationale Kooperation in der Pandemiebekämpfung zwischen Egoismus und Gerechtigkeit

Alexander Brand, Hannah Sofie Schöninger

PERIPHERIE – Politik • Ökonomie • Kultur, Heft 164 (3-2021), S. 405-436.

 

Zusammenfassung

Der Begriff „Impfdiplomatie“ erfreut sich seit Beginn der Corona-Krise und den einsetzenden Maßnahmen zu ihrer Eindämmung neuer Beliebtheit. Politik, Medien und Wissenschaft richten ihre Aufmerksamkeit dabei auf Aktivitäten von Staaten (u.a. China, Russland, Indien und die USA) und Staatenbünden wie der EU, die auf die Beschaffung und Verteilung von Impfpräparaten an bedürftige Länder sowie das Ausrollen von Impfkampagnen dort gerichtet sind. Ebenso fallen darunter diplomatische Initiativen, die auf die Schaffung globaler Verteilungsmechanismen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie gerichtet sind, vor allem COVAX. Unser Artikel diskutiert, welchen Beitrag diese Anstrengungen mit Blick auf ein Mehr an Impfgerechtigkeit potenziell besitzen und bis dato entfaltet haben. Eine solcherart an Bedürfniskriterien orientierte Verteilung könnte dabei auch als solidarisch charakterisiert werden. Basierend auf einer Analyse von Motivlagen und daraus bisher resultierenden Wirkungen von Impfdiplomatie kommen wir zu dem Schluss, dass geopolitische, Image- und wirtschaftliche Interessen einem Mehr an Impfgerechtigkeit im Wege stehen. Grassierender Impfnationalismus sowie die hinter den Erwartungen zurückbleibende COVAX-Initiative lassen auch für die nähere Zukunft befürchten, dass globale Ungleichheiten durch Impfdiplomatie eher noch verstärkt denn eingeebnet werden.

Schlagwörter: COVAX-Initiative, Geopolitik, Impfdiplomatie, Impfgerechtigkeit, Solidarität

 

Vaccine Diplomacy as an Instance of Global Solidarity? Cooperation in the International Fight against the COVID-19 Pandemic between Selfishness and Equity

Summary

As an effect of global efforts to address the COVID-19 pandemic, notions of “vaccine diplomacy” have attained a newfound popularity in academic, policy, and media discourses. Focusing on this domain, this article assesses to what extent the practices of states are contributing to more vaccine equity, i.e. a fairer distribution of and access to vaccines. Such equity could be interpreted as resulting from strengthened solidarity. Vaccine diplomacy encompasses eff orts of states, such as China, Russia, India, or the United States, as well as the European Union as a collective actor, in procuring vaccines on behalf of, and lending financial support for vaccination campaigns to, countries in need. Diplomatic initiatives aimed at the establishment of global mechanisms to fight against the COVID-19 pandemic, most notably COVAX, have also been subsumed under this rubric. This article discusses the different motivations behind vaccine diplomacy and their impact on global vaccine distribution so far. The analysis reveals that geopolitical, reputational, and commercial goals have had an ambiguous effect on vaccine equity. Moreover, with, at times rampant, vaccine nationalism, and the COVAX-initiative so far lagging behind its ambitions, global structural asymmetries have been reinforced rather than mitigated.

Keywords: COVAX initiative, geopolitics, vaccine diplomacy, vaccine equity, solidarity

 

1. Impfdiplomatie – Vehikel zu mehr Gerechtigkeit in der Pandemie?

Impfdiplomatie – die Herstellung in anderen und die Weitergabe von Impfstoffen an andere Länder als Mittel der Diplomatie und Strategie in der Pandemiebekämpfung – ist dank Corona in aller Munde.1 Damit einhergehend wird etwa von hochrangigen Funktionär*innen internationaler Organisationen allerdings auch ein Mehr an globaler Solidarität in der Pandemie angemahnt. So kritisierte der UN-Generalsekretär António Guterres im Januar 2021 den Mangel an koordinierten Anstrengungen und mahnte mit Blick auf damals bereits horrende Opferzahl: „[i]n Erinnerung an diese zwei Millionen Seelen muss die Welt mit weitaus größerer Solidarität handeln“ (UNRIC 2021).

Leistet Impfdiplomatie aber einen Beitrag zur solidarischen Pandemiebekämpfung? Oder wird über die in Form von Impfdiplomatie betriebene Interessenpolitik allenfalls das rhetorische Mäntelchen globaler Gerechtigkeit gebreitet? Wenn etwa der chinesische Staatspräsident Xi Jinping erklärt, die Weitergabe von Impfstoff en an andere Länder sei Teil von Chinas Vision einer „gemeinsamen Zukunft“, in der die Menschheit „an einem Strang ziehe“ (to work as one, zit. n. Doherty u.a. 2021), lässt sich dann das Agieren Chinas auf dem Parkett der Impfdiplomatie ohne Weiteres als solidarisch interpretieren? Und, noch wichtiger: Hat die Impfstoffdiplomatie von Ländern wie China, Russland, den USA, aber auch der Europäischen Union (EU) faktisch, also jenseits der jeweiligen Motivationslage, zu mehr Gerechtigkeit im Weltmaßstab beigetragen?

So stünde „globale Solidarität“2 mit Blick auf die Pandemie etwa dafür, kollektive Anstrengungen darauf zu richten, Länder ohne leistungsfähiges Gesundheitssystem nicht nachrangig oder erst bei (potenziell) vollständiger Versorgung des heimischen Marktes zu unterstützen. Mit anderen Worten: Genuin solidarisches Handeln in der Pandemie würde sich mit Blick auf Impfstoffverteilung daran bemessen, die verwundbarsten Menschengruppen und Gesellschaften weltweit zuvörderst an Impfmitteln teilhaben zu lassen, und zwar basierend auf deren besonderer Bedürftigkeit. „Solidarität“ in diesem Sinne, muss sich an der Bedarfssituation Dritter (vgl. Tranow & Schnabel 2019: 30f; klassisch: Ignatieff 1986) und nicht an unterstellten positiven Wirkungen für die Helfenden selbst orientieren.

Der Verwundbarkeit von im Weltmaßstab ohnehin schon marginalisierten Regionen und Gesellschaften käme also in etwa dem gleichen Maße, wie sie heimischen Risikogruppen gewidmet wird, prioritäre Aufmerksamkeit zu. Mit Blick auf Impfstoffe bedeutete dies: Präparate in betroffene Länder und Regionen zu liefern, kostenlos oder zu konzessionären Preisen; dortige Kampagnen logistisch zu unterstützen; die Anzahl von Produzenten durch Patentfreigabe oder vergünstigte Lizenzvergabe und flankierend durch Technologietransfer zu unterstützen und damit Unternehmen in allen Weltregionen zur Herstellung von Impfstoffen zu ertüchtigen.

Insgesamt gälte es, die Marktpreise für und den Zugang zu Impfstoffen zugunsten ärmerer Länder gezielt zu beeinflussen, und zwar vor allem an den beiden Kriterien der Bedürftigkeit und der Dynamik des Pandemiegeschehens orientiert. Unterstützungsmaßnahmen andernorts wären somit gegebenenfalls dem vollständigen Ausrollen oder dem Abschluss heimischer Impfkampagnen voran- oder wenigstens gleichzustellen. Damit ist gleichsam auf den politischen Spagat bzw. das Dilemma verwiesen, mit dem sich Entscheidungsträger*innen konfrontiert sehen: Agierten sie solidarisch(er), setzten sie sich angesichts eines ggf. grassierenden Infektionsgeschehens zu Hause dem Vorwurf aus, berechtigte nationale Interessen außer Acht zu lassen. Die Folgekosten sowohl mit Blick auf ihre Wiederwahl sowie die mögliche Auswirkungen auf die innergesellschaftliche Stabilität könnten dabei beträchtlich sein.

Der folgende Beitrag skizziert, wie auf Basis eines ausdifferenzierten Verständnisses von Impfdiplomatie und dreier unterscheidbarer Erklärungsansätze für dieses Phänomen konkretes außenpolitisches Handeln und Formen internationaler Kooperation in der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie einzuordnen sind (Kapitel 2). Dabei gehen wir davon aus, dass Impfanstrengungen zwar nicht das alleinige Handlungsfeld, aber doch eine zentrale Anstrengung zur Eindämmung des Infektionsgeschehens und der Mortalität der Pandemie darstellen. Wie Seow Ting Lee (2021: 3) ausführt, kommt Impfstoffen und Impfkampagnen gegenüber anderen medizinischen Eingriffen und gesundheitspolitischen Maßnahmen eine exponierte Rolle zu: Im Angesicht einer Krisensituation, die durch schnell voranschreitendes und in hohem Maße tödliches Infektionsgeschehen hervorgerufen werde, versprächen vor allem Impfstoffe eine effektive und zügige Eindämmung sowie gezielten zukünftigen Schutz qua Immunisierung.

In einem zweiten Schritt (Kapitel 3) stellen wir ausgewählte zentrale Akteure, deren bilaterale Impfdiplomatie in den vergangenen anderthalb Jahren Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, vor. Welchen Umfang besaßen deren Anstrengungen und welche Motivationen für die jeweils besondere Form ihrer Impfdiplomatie lassen sich erkennen? Zudem ist zu eruieren, in welchem Mischungsverhältnis nach außen gerichtete Impfdiplomatie jeweils mit Ausprägungen von sogenanntem „Impfnationalismus“ (Højme 2021; Rutschman 2021), also egoistisch motivierter Abschottung nach außen und aggressiver Konkurrenz um Impfressourcen, stand.

Daran schließt sich eine kurze Betrachtung multilateraler Foren und Fonds der Impfpolitik in der Corona-Krise (Kapitel 4) an: Lassen sich aus deren Ausgestaltung und ihrem Agieren Rückschlüsse auf den Stellenwert von globaler Solidarität und Gerechtigkeit in der Eindämmung von COVID-19 ziehen? Besonderes Augenmerk gilt dabei den Aktivitäten in und um COVAX (Covid-19 Vaccines Global Access) – der globalen Initiative zur Schaffung von verbessertem und gerechtem weltweiten Zugang zu Corona-Impfstoffen. Handelt es sich um einen solidarischen Koordinations- und Unterstützungsmechanismus? Oder gleicht COVAX ganz im Gegenteil eher einem Abwehrinstrument gegen die geforderten Patentfreigaben, ist chronisch unterfinanziert und legitimiert das „strukturelle Nichtstun“3 im Angesicht sich verhärtender globaler Ungleichheiten?

2. Impfdiplomatie – Aktionsformen und Erklärungsansätze

In der fachwissenschaftlichen Literatur existieren verschiedene, leicht voneinander abweichende Verständnisse des Begriffs „Impfdiplomatie“ (vaccine diplomacy) (u.a. Hotez 2014; Kickbusch u.a. 2021; Lee 2021). Im Folgenden werden wir uns an einer generellen Definition orientieren, die konsensual scheint und den Kern des Phänomens beschreibt. Unter dem Ausdruck können dementsprechend all jene von Staaten/Regierungen und von den von ihnen geschaffenen internationalen Organisationen ausgehenden gesundheitspolitischen Aktivitäten grenzüberschreitender Natur zusammengefasst werden, in denen die Entwicklung, Herstellung, und Verteilung von Impfmitteln im Zentrum steht (vgl. Kickbusch u.a. 2021: 168). Dies umfasst die folgenden Aspekte:

– die Lieferung von Impfstoff en zu konzessionären Konditionen oder als Schenkung in andere Länder;
– die externe Unterstützung bei der Implementierung von Impfstrategien in „schwierigen“ Kontexten, etwa Konfliktregionen oder schwer erreichbaren Gebieten;
– die Ermächtigung externer Akteure zur eigenen Herstellung von Impfpräparaten zu akzeptablen Kosten durch Technologietransfer und erleichtertem Patentzugang;
– die Beeinflussung internationaler Verhandlungen bzw. die Initiative zur Neugründung von Fonds und anderen Umverteilungsmechanismen zugunsten bedürftiger Länder, um deren Zugang zu Impfpräparaten zu erleichtern und insbesondere diesbezügliche Finanzierungslücken zu schließen.

Im Hinblick auf die Motivation, Impfdiplomatie zu betreiben, lassen sich grundlegend zwei Verständnisse voneinander abgrenzen. Erstens legt der Begriff „Impf-Diplomatie“ im Sinne einer „Bindestrich-Diplomatie“ (wie etwa Sport-Diplomatie oder Kultur-Diplomatie) zunächst ein eher instrumentelles Verständnis nahe, und zwar dergestalt, dass über das Agieren im Impfstoff-Bereich andere Ziele und Zwecke erreicht werden sollen. Aus dieser Sicht würden oben genannte Kanäle und Aktivitäten genutzt, vornehmlich um ökonomischen oder geostrategischen Einfluss zu sichern, Allianzen zu schmieden und insgesamt Reputationsmanagement im internationalen Rahmen zu betreiben. Historisch lässt sich zudem aufzeigen, dass Impfdiplomatie als Modus der Konfliktbeilegung zu Zeiten des Kalten Krieges eingesetzt, also gleichsam „instrumentalisiert“, da zu überwölbenden Zwecken genutzt wurde (Hotez 2014: 2; Kickbusch u.a. 2021: 69-71).

Davon abzugrenzen wäre ein Verständnis des Begriffs als im Kern auf die Eindämmung und Bekämpfung der Pandemie gerichtete Handlung. Mit anderen Worten: das erfolgreiche Management einer Gesundheitsgefährdung steht als das primäre Ziel im Mittelpunkt, und Impfkooperation dient nicht als Mittel zu anderen, nicht gesundheitspolitischen Zwecken. Wichtig ist dabei, dass auch in einem solchen Verständnis nicht automatisch von global solidarischen oder gar altruistischen Orientierungen der handelnden Akteure ausgegangen werden muss. So kann Kooperation im Gesundheitsbereich durchaus dem Schutz eigener (egoistischer) Sicherheitsinteressen dienen.

Diese beiden grundsätzlichen Auffassungen von Impfdiplomatie lassen sich aus unserer Sicht in drei hauptsächliche, unterscheidbare Erklärungsansätze4 für die Existenz des Phänomens überführen. Während der erste Erklärungsansatz, der geostrategisch-wettbewerbliche, weitestgehend deckungsgleich mit dem oben skizzierten instrumentellen Verständnis von Impfdiplomatie ist, lässt sich mit Blick auf eine genuin gesundheitspolitische Zielsetzung eine präventiv-sicherheitspolitische von einer normativ-solidarischen Erklärung unterscheiden.

Gemäß einer geostrategisch-wettbewerblichen Erklärung fußt Impfdiplomatie auf dem Ansinnen von Staaten, ihre Position gegenüber anderen durch Unterstützung Dritter im Impfbereich zu verbessern. Es sind aus diesem Grunde vor allem die bilateralen Formen der Impfdiplomatie, weniger die multilateralen Umverteilungsmechanismen (s. Kapitel 4), die unter dieser Perspektive zu diskutieren sind. Im Zentrum einer solchen geostrategisch-wettbewerblichen Erklärung steht dabei ein erwartetes Quidproquo: der Geber liefert existenziell notwendige Ressourcen, der Empfänger beantwortet dies mit Wohlverhalten (Unmüßig & Sitenko 2021). Aus Sicht des Senders akzentuiert diese Erklärung im Besonderen den egoistischen und selektiven Charakter von Impfdiplomatie: Wer nichts anzubieten hat oder sich sperrt, wird übergangen oder bekommt weniger Impfmittel als notwendig. Yanzhong Huang (2021) betont den besonderen Stellenwert, den gerade Impfstoff e vor dem Hintergrund grassierenden und tödlichen Infektionsgeschehens besitzen: Das Sendeland, das solch überlebenswichtige Güter her- und bereitstellt, weiß sich zumindest der Anerkennung und Dankbarkeit sicher; vielleicht erfährt es sogar Bewunderung. Im Sinne von soft power lassen sich auf diesem Fundament vortrefflich Einflusssphären ausdehnen oder zementieren. Wenig verwunderlich hat so die Financial Times bereits sehr früh gemutmaßt, dass die breit angelegte Strategie Chinas, Impfkooperation im globalen Kontext mit vielen Ländern anzustreben, auf einer Vielzahl sekundärer Motivationen beruhe (s. dazu Kapitel 3.2). Sie sei als kompensatorischer Akt angesichts der Genese des COVID-19-Virus (SARS-CoV-2) mutmaßlich in China zu verstehen, sie nutze das zeitweise weltpolitische Vakuum angesichts der unilateral agierenden US-Regierung unter Trump, und sie versuche, China als verantwortungsvollen internationalen Akteur herauszustellen (FT 2020). Wie sich aus diesem Katalog ersehen lässt, sind all dies außen- und weltpolitische Ziele, die nicht auf das Pandemiemanagement als solches ausgerichtet sind, sondern dieses zu nutzen suchen.

Ein zweiter Erklärungsansatz für Impfdiplomatie ist präventiv-sicherheitspolitisch ausgerichtet. Er unterscheidet sich vom geostrategischen dadurch, dass er Impfkooperation nicht als Mittel zur Erreichung anderer Ziele ansieht, sondern unterstellt, dass Staaten sich durch das Infektionsgeschehen in ihrer internationalen Umwelt gefährdet sehen. Dementsprechend betrachten sie die Unterstützung von Impfkampagnen in anderen Ländern als ein wirksames Mittel zu Eindämmung einer Pandemie, die ihre eigene Sicherheit und Integrität substanziell bedroht. Mit dem geostrategischen Ansatz teilt er die egoistische Akteursorientierung, die in einem selektiven Engagement bzw. in einem Aktionsradius resultiert, welche sich an den durch Interdependenz hervorgerufenen, wahrgenommenen eigenen Verwundbarkeiten orientieren (Gemünden & Thiel 2021). Das bedeutet: Sicherheitspolitisch motivierte Impfdiplomatie muss nicht notwendigerweise global akzentuiert sein, sondern richtet sich mitunter auf Pandemieherde in umgebenden Regionen und solchen Gebieten, mit denen ein hoher Grad an Austausch besteht. Aktivitäten sind aus diesem Grunde auch nicht notwendigerweise an die Schwere des Leidens oder die Bedürftigkeit von Menschen andernorts gebunden, sondern zunächst an die unterstellten Konsequenzen des eigenen (Nicht-)Handelns. Markantes Merkmal einer solcherart motivierten Impfdiplomatie ist die Begründung mit einem sicherheitspolitischen Narrativ. So argumentiert etwa Masood Ahmed (2001), im Ansinnen die US-Regierung zu größeren Anstrengungen zu animieren, die globale Pandemie (nicht nur die heimische!) sei eine nationale Sicherheitsbedrohung:

„Man stelle sich vor, 600.000 Amerikaner*innen und 4 Millionen Menschen wären bei einem terroristischen Anschlag getötet worden, und 50.000 stürben weiterhin jede Woche. Sähe unsere Antwort so aus, wie wir jetzt handeln, um COVID-19 weltweit zu bekämpfen? Der Kampf gegen COVID-19 ist ein globaler Krieg, aber die Politiker*innen handeln nicht danach.“ (ebd.; eigene Herv.)5

In wesentlich weicherer Form findet sich diese Idee auch in der seitens von Funktionär*innen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oft zitierten Begründungsformel, dass niemand sicher vor COVID-19 sei, „bevor nicht alle davor sicher sind“. Im deutschen Kontext hat etwa Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (2020) diesen Gedanken aufgegriffen und ausgeführt, dass „[s]elbst wer das Virus in seinen eigenen nationalen Grenzen besiegt [habe], […] ein Gefangener dieser Grenzen [bleibe], solange es nicht überall besiegt ist“ (ebd.; eigene Herv.). Ganz in diesem Sinne, so ein breiter Konsens in sozialwissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Debatten, stellten kollektive Anstrengungen in Form einer breit angelegten Impfdiplomatie eine „praktische Notwendigkeit“ (Osterholm & Olshaker 2021) dar, während Abschottung und Alleingänge „kurzsichtig, ineffektiv und tödlich“ (Katz u.a. 2021: 1281) seien.

Vor dem Hintergrund dieser beiden Erklärungsansätze lässt sich ein dritter, alternativer Zugang herausarbeiten, der die Aspekte Solidarität und Gerechtigkeit zentral stellt, statt sie instrumentell engzuführen (= Solidarität nützt der Sicherheit) oder handfeste andere Interessen damit zu bemänteln (= Solidarität kaschiert Machtinteressen).

Ein solcher normativ-solidarischer Erklärungsansatz orientiert sich eng am eingangs beschriebenen Verständnis globaler Solidarität unter Pandemiebedingungen. Nancy S. Jecker u.a. (2021: 309) beschreiben ihn ausgehend vom Prinzip eines „moralischen Kosmopolitanismus“ als einer ethischen Position, die eine besondere Fürsorgepflicht für Mitmenschen im eigenen Land verneint und stattdessen auf den Kriterien Empathie und Bedürftigkeit gründet. Dieser Logik zufolge wäre Impfdiplomatie dadurch motiviert, die verwundbarsten Bevölkerungsgruppen weltweit primär durch Impfungen zu immunisieren. Dies beträfe dann vor allem sogenannte Risikogruppen wie etwa Gesundheitsbedienstete rund um den Globus und solche Bevölkerungsgruppen, unabhängig von deren nationaler Zugehörigkeit, die unter akuter Armut leiden und daher kaum Möglichkeiten besitzen, sich anderweitig vor einer Infektion zu schützen (Boardman 2021).

Mithin seien also Impfstoffe primär dorthin zu liefern, wo diese den größten Effekt im Sinne des Schutzes der meisten Menschenleben versprächen (Jecker u.a. 2021: 312, 316). Auch wenn es sich bei diesem Erklärungsansatz scheinbar um einen idealistisch verbrämten Idealtypus handelt, so lassen sich doch gerade auch im völkerrechtlichen Bereich Andockpunkte für solcherart gelagerte Handlungsimperative finden (Bogdandy & Villareal 2021: 100).

Im Folgenden skizzieren wir nun kurz einzelne exponierte Akteure und deren impfdiplomatische Strategien im Kontext der COVID-19-Pandemie und beleuchten sie dahingehend, welche der genannten Ansätze den meisten Erklärungswert bieten. Insbesondere wollen wir nach Elementen solidarischer Impfdiplomatie Ausschau halten.

1 Huang 2021; Kickbusch u.a. 2021; Lee 2021; McClellan u.a. 2021.
2 Die folgenden Ausführungen orientieren sich an den grundlegenden Ideen in Jecker u.a. 2021: 309, beziehen diese aber auf konkrete praktische Implikationen.
3 Diese Formulierung ist, in leicht zugespitzter Form, an die kritischen Darlegungen von Anne Jung (medico international) im Rahmen des Vortrags „Globale Impf(-un-)gerechtigkeit bei Corona“ (Zoom/Weltladen Marburg, 10.6.2021) angelehnt.
4 Mit Absicht verzichten wir an dieser Stelle darauf, diese Erklärungsansätze umfassend auf politikwissenschaftliche und/oder Großtheorien der Internationalen Beziehungen (IB) zurückzuführen. Dies wäre prinzipiell möglich (etwa durch Klassifizierung als realistischer, neoliberal-institutionalistischer und Weltgesellschafts-Ansatz), trägt aber an dieser Stelle nur bedingt zum besseren Verständnis der Materie bei. Vgl. auch den Zugang von Basrur & Kliem (2021), die den Weg über (IB-)Paradigmen wählen.
5 „Imagine if 600,000 Americans and 4 million worldwide had been killed in a terrorist attack, and 50,000 were still being killed every week. Would our response look like what we are doing to fight COVID-19 across the world? The fight against COVID-19 is a global war but policymakers are not behaving accordingly.“

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